Entscheidungsstichwort (Thema)

Berechnung der Lohnsteuer-Haftungsschuld des Arbeitgebers; Wirksamkeit des Haftungsbescheides trotz Unzulässigkeit der Schätzung

 

Leitsatz (NV)

1. Fordert das FA in einem Haftungsbescheid vom Arbeitgeber Lohnsteuer wegen Zuwendungen von Arbeitslohn in einer Vielzahl von Fällen nach, so ist die Höhe der Lohnsteuer trotz des damit verbundenen Arbeitsaufwandes grundsätzlich individuell zu ermitteln und nicht mit einem durchschnittlichen Steuersatz zu schätzen (Bestätigung der Rechtsprechung in dem Urteil vom 17. März 1994 VI R 120/92, BFHE 174, 89, BStBl II 1994, 536).

2. Wird die Lohnsteuer-Haftungsschuld zu Unrecht mit einem durchschnittlichen Steuersatz geschätzt, so ist der Haftungsbescheid nicht wegen inhaltlicher Unbestimmtheit unwirksam, wenn die konkreten Sachverhalte, die zu Lohnzuflüssen geführt haben, und der Zeitraum der Lohnzuflüsse bezeichnet sind.

 

Normenkette

EStG §§ 38a, 40 Abs. 1, § 42d Abs. 1 Nr. 1; AO 1977 § 119 Abs. 1, § 124 Abs. 3, § 125 Abs. 1, § 162

 

Verfahrensgang

Hessisches FG

 

Tatbestand

Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) beschäftigt rd. 1 000 Arbeitnehmer, denen sie entweder angemietete oder eigene Dienstwohnungen zur Verfügung stellt. Die Arbeitnehmer sind zum Bezug der zur Verfügung gestellten Wohnungen verpflichtet.

Zur Abrechnung der in den Dienstwohnungen entstehenden Heizkosten hatte die Klägerin eine Verwaltungsverordnung des Inhalts erlassen, daß Dienstwohnungsinhaber ein einheitliches Heizkostenentgelt nach Maßgabe der Dienstwohnungsvorschriften des Landes Hessen zu entrichten haben. Danach berechnet sich das einheit liche Heizkostenentgelt je Quadratmeter Wohnfläche der beheizbaren Räume und je Heizperiode. Die auf eine Wohnfläche von mehr als 130 qm entfallenden Heizkosten waren vom Dienstwohnungsinhaber zu 25 v. H. zu tragen, die darüber hinausgehenden Aufwendungen in Höhe von 75 v. H. wurden von der Klägerin übernommen, ohne daß sie insoweit Lohnsteuer einbehalten und abgeführt hatte.

Bei einer die Jahre 1985 bis 1988 betreffenden Lohnsteuer-Außenprüfung vertrat der Prüfer die Auffassung, in Höhe der von der Klägerin übernommenen Heizkostenanteile liege steuerpflichtiger Arbeitslohn der begünstigten Arbeitnehmer vor. Wegen der Vielzahl der Arbeitnehmer und des Prüfungszeitraums von vier Jahren hielt der Prüfer den Arbeitsaufwand zur Ermittlung der Lohnsteuer nach den individuellen Besteuerungsmerkmalen der einzelnen Arbeitnehmer für zu hoch und berechnete die auf die Heizkosten entfallende Lohnsteuer mit einem durchschnittlichen Steuersatz. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt -- FA --) lehnte die individuelle Berechnung der Lohnsteuerschuld ebenfalls ab und erließ einen Haftungsbescheid über die mit einem durchschnittlichen Steuersatz berechnete Lohnsteuer.

Das Finanzgericht (FG) hob den Haftungsbescheid über Lohnsteuer und die Einspruchsentscheidung ohne weitere Maß gabe auf. Es vertrat die Auffassung, ein Lohnsteuer-Haftungsbescheid, der als Sammelhaftungsbescheid die Steuerschulden mehrerer Arbeitnehmer umfasse, sei wegen fehlender inhaltlicher Bestimmtheit rechtswidrig, wenn der Gesamthaftungsbetrag nicht auf die einzelnen Arbeitnehmer aufgegliedert und die Aufgliederung des Haftungsbetrages weder objektiv unmöglich noch eine individuelle Berechnung der Lohnsteuer nach den Grundsätzen von Recht und Billigkeit unzumutbar sei. Eine Aufgliederung der Lohnsteuerschulden im Haftungsbescheid auf die einzelnen Arbeitnehmer sei auch bei einer Vielzahl von Arbeitnehmern nicht bereits aufgrund des sich durch die Steuerberechnung ergebenden erheblichen Arbeitsaufwandes unzumutbar, wenn der Arbeitgeber seine Absicht -- wie im Streitfall geschehen -- zu erkennen gegeben habe, bei den Arbeitnehmern Regreß zu nehmen. Das Urteil ist in den Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1994, 454 veröffentlicht.

Das FA rügt mit der Revision eine Verletzung des § 42d Abs. 1 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) und des § 191 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des FA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --).

1. Der Senat hat nach Ergehen der Vorentscheidung mit Urteil vom 17. März 1994 VI R 120/92 (BFHE 174, 89, BStBl II 1994, 536) entschieden, daß die Höhe der Lohnsteuer trotz des damit verbundenen Arbeitsaufwandes grundsätzlich individuell zu ermitteln und nicht mit einem durchschnittlichen Steuersatz zu schätzen ist, wenn das FA in einem Haftungsbescheid vom Arbeitgeber Lohnsteuer wegen Zuwendungen von Arbeitslohn in einer Vielzahl von Fällen nachfordert. Etwas anderes gilt dann, wenn entweder die Voraussetzungen des § 162 AO 1977 für eine Schätzung der Lohnsteuer vorliegen oder der Arbeit geber mit der Berechnung der Haftungsschuld mit einem durchschnittlichen Steuersatz einverstanden ist.

Die Vorentscheidung steht mit diesen Grundsätzen im Einklang. Das FG hat aufgrund der Beweisaufnahme festgestellt, dem FA sei nach den ihm von der Klägerin vorgelegten Aufzeichnungen die Berechnung der Lohnsteuer, wenn auch mit einem erheblichen Zeitaufwand, problemlos möglich gewesen. Gegen diese Feststellungen hat das FA keine Revisionsrügen erhoben.

Soweit das FA der Vorentscheidung -- und damit im Ergebnis auch dem Senatsurteil in BFHE 174, 89, BStBl II 1994, 536 -- entgegenhält, es lasse die Praxisorientierung vermissen und räume dem Regreßbedürfnis des Arbeitgebers absolute Priorität ein, vermögen diese Einwände zu keiner anderen Rechtsauffassung zu führen. Der Umstand, daß der Erlaß eines Haftungsbescheides gegenüber dem Arbeitgeber im Ermessen des FA steht (vgl. § 191 Abs. 1 AO 1977, § 42d Abs. 3 Sätze 2 und 3 EStG), ändert nichts daran, daß sich die Haftung der Höhe nach gemäß § 42d Abs. 1 Nr. 1 EStG auf die Lohnsteuer bezieht, die der Arbeitgeber einzubehalten und abzuführen hat. Diese Lohnsteuer muß der Arbeitgeber gemäß den §§ 38a ff. EStG berechnen. Seine Haftung bezieht sich folglich auf die solchermaßen berechnete Lohnsteuer. Eine Verweisung auf § 40 Abs. 1 EStG ist -- wie das FA selbst zutreffend ausgeführt hat -- den Haftungsvorschriften auch nicht für den Fall zu entnehmen, daß Lohnsteuer in einer Vielzahl von Fällen nachgefordert wird. Von einer individuellen Berechnung der Lohnsteuer-Haftungsschuld kann deshalb nur unter den in § 162 AO 1977 aufgestellten Voraussetzungen oder im Falle einer tatsächlichen Verständigung abgesehen werden.

2. Abweichend von der Auffassung des FG im Streitfall hat der Senat in dem Urteil in BFHE 174, 89, BStBl II 1994, 536 aber die Auffassung vertreten, die Anwendung eines durchschnittlichen Steuersatzes mache den Haftungsbescheid nicht etwa inhaltlich unbestimmt (§ 119 Abs. 1 AO 1977) mit der Folge, daß er gemäß § 124 Abs. 3, § 125 Abs. 1 AO 1977 unwirksam und der Klarheit wegen aufzuheben wäre. Vielmehr reiche es für die inhaltliche Bestimmtheit eines Haftungsbescheides aus, wenn die konkreten Sachverhalte, die zu Lohnzuflüssen geführt haben, und der Zeitraum der Lohnzuflüsse bezeichnet werden. Es sei für die inhaltliche Bestimmtheit eines Haftungsbescheides i. S. des § 119 Abs. 1 AO 1977 nicht erforderlich, daß aus ihm hervorgehe, in welcher Höhe die nachgeforderte Lohnsteuer jeweils einem konkreten Arbeitnehmer zuzuordnen sei. Diese Frage sei vielmehr der materiell-rechtlichen Rechtmäßigkeit des Haftungsbescheides zuzuordnen. An dieser Auffassung hält der Senat fest.

3. Da das FG insoweit von anderen Rechtsgrundsätzen ausgegangen ist, ist die Vorentscheidung aufzuheben. Die Sache ist nicht spruchreif. Das FG wird im zweiten Rechtsgang zunächst die -- aus seiner Sicht zu Recht -- bislang noch nicht entschiedene Frage zu klären haben, ob es sich bei der Übernahme der Heizkosten durch die Klägerin zugunsten ihrer Arbeitnehmer um Arbeitslohn i. S. des § 19 Abs. 1 Nr. 1 EStG handelt.

Sollte das FG danach zu der Auffassung gelangen, daß die Klägerin ihren Arbeitnehmern unversteuerten Lohn zugewendet hat und somit die Voraussetzungen des § 42d Abs. 1 Nr. 1 EStG dem Grunde nach vor liegen, so hat es dem FA Gelegenheit zu geben, die Lohnsteuer (Haftungsschuld) anhand der individuellen Besteuerungsmerkmale der einzelnen Arbeitnehmer zu errechnen. Auch wenn die Außenprüfung inzwischen abgeschlossen ist, hat die Klägerin bei der Berechnung die ihr in analoger Anwendung des § 200 AO 1977 obliegenden Mitwirkungspflichten zu erfüllen und dem FA angemessene und zumutbare Hilfestellungen bei der Berechnung zu leisten. Selbstverständlich bleibt es den Beteiligten weiterhin möglich, eine tatsächliche Verständigung zu treffen.

Sollte eine tatsächliche Verständigung nicht erfolgen, so wird je nach dem Ergebnis der Berechnung entweder eine Teilrücknahme des angefochtenen Haftungsbescheides gemäß § 130 Abs. 1 AO 1977 oder -- falls die Klägerin nicht wegen der nunmehr vorliegenden ordnungsgemäßen Berechnung der Lohnsteuer (Haftungsschuld) den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklären sollte -- eine Klageabweisung in Betracht kommen.

Sollte sich das FA auch im zweiten Rechtsgang weigern, unter angemessener Mitwirkung der Klägerin eine individuelle Berechnung der Lohnsteuer vorzunehmen, so kann das FG nach § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO vorgehen und den Haftungsbescheid mit der Maßgabe aufheben, daß das FA die Lohnsteuer (Haftungsschuld) individuell zu berechnen hat.

 

Fundstellen

Haufe-Index 420066

BFH/NV 1995, 297

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Haufe Finance Office Premium. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge