Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorlagebeschluß zum EuGH bezüglich der Besteuerung der Umsätze bei der Abgabe von Speisen zum Verzehr an Ort und Stelle: Lieferung oder sonstige Leistung/Dienstleistung gem. Sechster EG-Richtlinie 77/388/EWG, Erbringung der Umsätze auf Beförderungsmittel, Verhinderung einer Doppelbesteuerung durch Vereinbarung im Einzelfall zwischen EG-Mitgliedstaaten, Ort einer Dienstleistung - Vorlagepflicht gem. Art. 177 Abs. EWG-Vertrag

 

Leitsatz (amtlich)

1. Dem EuGH werden folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.1. Welche Regelungen enthält die Sechste Richtlinie (77/388/EWG) für die Besteuerung der Umsätze bei der Abgabe von Speisen zum Verzehr an Ort und Stelle (Restaurationsumsätze)?

1.2. Falls eine solche Regelung fehlt: Welche gemeinschaftsrechtliche Regelung gilt für Restaurationsumsätze auf Beförderungsmitteln, die zwischen Mitgliedstaaten mit unterschiedlicher nationaler Regelung des Besteuerungsorts solcher Umsätze verkehren?

1.3. Falls eine gemeinschaftsrechtliche Regelung fehlt: Können einzelne Mitgliedstaaten ihre unterschiedliche Regelung der Restaurationsumsätze bzw. der Leistungsorte beibehalten, wenn diese Mitgliedstaaten durch Vereinbarung im Einzelfall die Doppelbesteuerung der Umsätze vermeiden?

 

Orientierungssatz

1. Die Abgabe von Speisen und Getränken zum Verzehr an Ort und Stelle ist, wie sich aus dem Wortlaut des § 12 Abs.2 Nr.1 Sätze 2 und 3 UStG 1980 ergibt, keine sonstige Leistung, sondern eine Lieferung (vgl. Ausführungen zur Gesetzesbegründung).

2. Wird ein vom Gemeinschaftsrecht der EG erfaßter Sachverhalt in den einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedlich geregelt, so daß die Gefahr voneinander abweichender Gerichtsentscheidungen besteht, kann dies zur Vorlagepflicht gem. Art. 177 Abs.3 EWGV führen (hier: umsatzsteuerliche Behandlung der Abgabe von Waren zum Verzehr an Ort und Stelle als Lieferung bzw. als sonstige Leistung; vgl. EuGH-Urteil vom 6.10.1982 Rs. 283/81).

3. Bei der Bestimmung des steuerlichen Anknüpfungspunkts für Dienstleistungen gem. Art. 9 Abs.1 der Sechsten EG-Richtlinie 77/388/EWG ist der Sitz des Dienstleistenden vorrangig. Die Berücksichtigung einer anderen Niederlassung, an der eine Dienstleistung ausgeführt wird, ist nur dann von Interesse, wenn die Anknüpfung an den Sitz nicht zu einer steuerlich sinnvollen Lösung führt oder einen Konflikt mit einem anderen Mitgliedstaat zur Folge hat (vgl. EuGH-Urteil vom 4.7.1985 Rs. 168/84).

 

Normenkette

UStG 1980 § 3 Abs. 1, 6, 9, § 3a Abs. 1; EWGVtr Art. 177 Abs. 3; UStG 1980 § 12 Abs. 2 Nr. 1 S. 2; EWGRL 388/77 Art. 5-6, 8, 9 Abs. 1

 

Tatbestand

I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist eine Gesellschaft dänischen Rechts. Sie betreibt mit ihrem Seeschiff Fährverkehr zwischen Deutschland und Dänemark.

Streitig ist, ob sog. Restaurationsumsätze auf ihrem Schiff innerhalb der deutschen Drei-Seemeilen-Zone nach dem deutschen Umsatzsteuergesetz (UStG) steuerbar sind.

Die Klägerin vertritt die Auffassung, die Restaurationsumsätze seien sonstige Leistungen. Leistungsort sei gemäß § 3a Abs.1 UStG 1980 entsprechend Art.9 der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ... 77/388/EWG --Sechste Richtlinie-- (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften --ABlEG-- L 145/1) ihr Sitz in Dänemark. Sie gab daher in den Umsatzsteuererklärungen für die Streitjahre (1984 bis 1989) keine derartigen Umsätze an.

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) beurteilt hingegen die Abgabe von Speisen und Getränken an Fahrgäste als Lieferung i.S. von § 1 Abs.1 Nr.1 erste Alternative, Abs.3 Nr.1, § 3 Abs.1 UStG 1980 mit Lieferungsort gemäß § 3 Abs.6 UStG 1980 (je nach Ausgabe der Speisen) und setzte Umsatzsteuer aufgrund geschätzter Umsätze fest.

Einspruch und Klage hatten keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) ging wie das FA davon aus, daß nach deutschem Umsatzsteuerrecht die Abgabe der Speisen und Getränke an Fahrgäste Lieferungen seien und daß das FA den Ort der Lieferung zutreffend bestimmt habe.

Mit der Revision (Zulassung durch Senatsbeschluß vom 10. August 1993 V B 198/91, BFHE 172, 187) beantragt die Klägerin hauptsächlich, das FG-Urteil und die angefochtenen Umsatzsteuerbescheide aufzuheben. Nach ihrer Auffassung hat das FG verkannt, daß aufgrund natürlicher Betrachtungsweise die Restaurationsumsätze als sonstige Leistungen beurteilt werden müßten. Der Bewirtung liege eine Vielzahl von Dienstleistungen zugrunde. Diese prägten die Gesamtleistung. Die Sachlieferung der Nahrungsmittel trete dabei zurück.

Ferner beantragt die Klägerin, das Verfahren auszusetzen und die Sache dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) zur Entscheidung vorzulegen. Zu klären sei:

Vereinbarkeit der Besteuerung der Restaurationsumsätze auf einem dänischen Fährschiff in der bundesdeutschen Drei-Seemeilen-Zone nach § 1 Abs.1 Nr.1 erste Alternative und Abs.3 Nr.1 sowie § 3 Abs.1 UStG 1980 mit Art.5, 6 und 9 der Sechsten Richtlinie. Die Klägerin geht dabei von ihrer Beurteilung der Umsätze als sonstige Leistungen aus;

Vereinbarkeit der Besteuerung dieser Umsätze nach deutschem UStG mit dem gemeinschaftsrechtlichen Gleichheitssatz, weil die Finanzverwaltung es unterlasse, zahlreiche andere große Fährschiffreedereien entsprechend zu besteuern;

Vereinbarkeit der Besteuerung dieser Umsätze mit allgemein anerkannten völkerrechtlichen Grundsätzen. Letztere seien Bestandteil des Gemeinschaftsrechts. Die steuerlichen Befugnisse bezüglich eines ausländischen Seeschiffs endeten, nachdem aus Anlaß des Auslaufens aus dem inländischen Hafen eine endgültige Zollabfertigung stattgefunden habe.

Außerdem schließt sich die Klägerin den Erwägungen in den Entscheidungsgründen des Senatsbeschlusses in BFHE 172, 187 --Zulassung der Revision im Hinblick auf erforderliche gemeinschaftsrechtliche Klärung-- an.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen. Es hält am Lieferungscharakter der fraglichen Umsätze fest und trägt ergänzend vor: Es sei zwar theoretisch denkbar, daß die unterschiedliche Bewertung der Restaurationsumsätze in der Bundesrepublik Deutschland (Bundesrepublik) und dem Königreich Dänemark (Dänemark) als Lieferung einerseits bzw. als sonstige Leistung andererseits zur Doppelbesteuerung führen könne. Praktisch sei eine zweimalige Besteuerung jedoch ausgeschlossen, weil Dänemark für die Vergangenheit und für die Zukunft auf eine Besteuerung dieser Umsätze ausdrücklich verzichtet habe.

 

Entscheidungsgründe

II. Der erkennende Senat setzt das Revisionsverfahren aus, um dem EuGH Fragen zur Auslegung bzw. Anwendung der Sechsten Richtlinie gemäß Art.177 Abs.3 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWGV) vorzulegen.

1. Nach Auffassung des Senats läßt die angefochtene Entscheidung des FG keinen Rechtsfehler bei der Anwendung des deutschen UStG erkennen. Soweit die Klägerin dem FG vorhält, es verkenne, daß die Abgabe von Speisen und Getränken zum Verzehr an Ort und Stelle (Restaurationsumsätze an Bord ihres Schiffes) sonstige Leistungen seien, übersieht sie die gegenteilige Beurteilung durch das UStG 1980; denn § 12 Abs.2 Nr.1 Sätze 2 und 3 UStG 1980 nimmt "die Lieferung von Speisen und Getränken zum Verzehr an Ort und Stelle" von dem ermäßigten Steuersatz aus, setzt also voraus, daß die bezeichneten Umsätze Lieferungen sind. Die von der Klägerin herausgestellten Besonderheiten der Bewirtungsumsätze hat der deutsche Gesetzgeber berücksichtigt. Das Überwiegen des Dienstleistungsanteils gegenüber dem in der Lieferung von Nahrungsmitteln bzw. Getränken bestehenden Anteil führte lediglich zur Entscheidung des Gesetzgebers dahin, daß die "einheitliche Gesamtleistung als gewerbliche Speise- und Getränkeverabfolgung" erscheine und voll besteuert werden müsse --im Gegensatz zu den Nahrungsmittellieferungen im Laden zum ermäßigten Steuersatz--; die Einordnung dieser einheitlichen Gesamtleistungen als Lieferung stand außer Frage (vgl. BTDrucks 8/2827, S.68 unter VI. 4.).

Der Senat braucht daher auf die Rügen der Klägerin zur Verletzung des UStG, die auf ihrer entgegenstehenden materiell-rechtlichen Auffassung (Dienstleistung) beruhen, nicht weiter einzugehen.

Für den Senat ist auch nicht ersichtlich, daß die gesetzliche Annahme einer Lieferung bei den Restaurationsumsätzen gemäß § 12 Abs.2 Nr.1 Sätze 2 und 3 UStG 1980 auf fehlerhafter Umsetzung der Sechsten Richtlinie beruhen könnte. Ob die Abgabe von Waren zum Verzehr an Ort und Stelle als Dienstleistung oder als Lieferung anzusehen ist, regelt die Sechste Richtlinie nicht unmittelbar. Art.5 und 6 der Sechsten Richtlinie enthalten Definitionen von Lieferung und sonstiger Leistung (Dienstleistung), die denen des deutschen UStG entsprechen. Auch der durch die Richtlinie des Rates vom 16. Dezember 1991 zur Ergänzung des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems und zur Änderung der Richtlinie 77/388/EWG im Hinblick auf die Beseitigung der Steuergrenzen --91/680/EWG-- (ABlEG 1991 L 376 S.1) in Art.8 Abs.1 der Sechsten Richtlinie eingefügte Buchstabe c enthält keine Sonderbestimmung dazu, ob die Abgabe von Waren zum Verzehr an Ort und Stelle als Dienstleistung oder als Lieferung anzusehen ist (vgl. Langer/Rokos, Die Sechste EG-Umsatzsteuer-Richtlinie in der ab 1. Januar 1993 geltenden Fassung, konsolidierte Textfassung mit Erläuterungen, Erläuterungen zu Art.8, S.37). Die Beurteilung der Verpflegungsleistungen in Lokalen als Lieferung widerspricht auch nicht offensichtlich den allgemeinen Abgrenzungen von Lieferung und Dienstleistung, zumal generell der Bezug eines bestellten Gegenstands als Lieferung gilt, auch wenn Dienst- und/oder Werkleistungen zu seiner Herstellung weit überwiegen.

Der Senat hält aber eine Vorlage an den EuGH im Hinblick auf eine einheitliche Behandlung der hier streitigen Verpflegungsumsätze in den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft insbesondere zur Vermeidung von Doppelbesteuerung für geboten.

Die erörterten Umsätze werden in den meisten Mitgliedstaaten --abweichend zur deutschen Regelung-- als Dienstleistung und nicht als Lieferung angesehen (vgl. den Hinweis bei Langer/ Rokos, a.a.O.). Demzufolge könnte es zu einer Doppelbesteuerung der Umsätze kommen, wenn ein anderer Mitgliedstaat --z.B. Dänemark, der Sitz-Staat der Klägerin-- den hier streitigen Umsatz als Dienstleistung wertet: Bei einer Lieferung wäre nach Art.8 Abs.1 Buchst.b der Sechsten Richtlinie in der Fassung der Streitjahre der Ort im Zeitpunkt der Lieferung (vgl. auch § 3 Abs.6 UStG 1980), bei einer Dienstleistung dagegen der Sitz des Leistenden gemäß Art.9 Abs.1 der Sechsten Richtlinie (ebenso § 3a Abs.1 UStG 1980) maßgeblich.

Die unterschiedliche Regelung in einzelnen Mitgliedstaaten mit der daraus folgenden Gefahr voneinander abweichender Gerichtsentscheidungen kann nach der Rechtsprechung des EuGH zur Vorlagepflicht gemäß Art.177 Abs.3 EWGV führen (EuGH-Urteil vom 6. Oktober 1982 Rs.283/81, Slg. 1982, 3415, 3428 f.; Geiger, EG-Vertrag, Kommentar zu dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 1993, Art.177 Rn.16).

Der Senat hält die Beantwortung der an den EuGH gerichteten Frage zur Entscheidung im Revisionsverfahren für erheblich i.S. von Art.177 Abs.2 EWGV.

Sollte für die Restaurationsumsätze der Klägerin auf ihrem Fährschiff nach dem Gemeinschaftsrecht als Leistungsort der Ort gelten, an dem die Klägerin den Sitz ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit hat (Art.9 Abs.1 der Sechsten Richtlinie) --in Dänemark--, so unterlägen diese Umsätze nicht der deutschen Umsatzsteuer.

Die Entscheidungserheblichkeit entfiele auch dann nicht, wenn die Klägerin auf ihrem Fährschiff eine sog. feste Niederlassung i.S. von Art.9 Abs.1 der Sechsten Richtlinie als Ort der Verpflegungsabgabe (deren Dienstleistungscharakter unterstellt) haben sollte. Denn nach der Rechtsprechung des EuGH ist der Sitz des Dienstleistenden vorrangiger Anknüpfungspunkt. Die Berücksichtigung einer anderen Niederlassung, von der aus die Dienstleistung ausgeführt wird, ist nur dann von Interesse, wenn die Anknüpfung an den Sitz nicht zu einer steuerlich sinnvollen Lösung führt oder wenn sie einen Konflikt mit einem anderen Mitgliedstaat zur Folge hat (EuGH-Urteil vom 4. Juli 1985 Rs.168/84, Slg. 1985, 2251). Das trifft jedoch für den Streitfall nicht zu. Die Annahme einer "festen Niederlassung" auf dem Fährschiff ergäbe dieselben praktischen Abgrenzungsprobleme über den jeweiligen Leistungsort bei Fahrten von den nationalen Gewässern des Abfahrtsstaates zu denen des Ankunftsstaates und durch internationale Gewässer wie bei Annahme einer Lieferung mit deren jeweiligem Leistungsort.

Am Erfordernis der Vorlage an den EuGH ändert auch der Vortrag des FA im Revisionsverfahren nichts, Dänemark habe --zur Vermeidung von Doppelbesteuerung der Restaurationsumsätze im Fährverkehr auf Seeschiffen zwischen Dänemark und der Bundesrepublik-- tatsächlich auf eine Besteuerung der Umsätze (im deutschen Erhebungsgebiet bzw. der gemäß § 1 Abs.3 UStG 1980 gleich zu behandelnden Umsätze) verzichtet.

Zwar wäre bei Maßgeblichkeit einer derartigen Vereinbarung die Doppelbesteuerung einzelner Umsätze vermieden. Gleichwohl verstieße die von der Klägerin angefochtene Besteuerung der streitigen Restaurationsumsätze in deutschen Gewässern mit der deutschen Umsatzsteuer gegen das Gemeinschaftsrecht, wenn dieses insoweit Dienstleistungen bzw. Leistungen mit Besteuerungsort im Sitz-Staat der Klägerin vorsähe. Handelte es sich dabei um eine sog. "berufbare" Regelung zugunsten der Klägerin, hätte ihre Revision Erfolg.

Vorsorglich legt der Senat daher dem EuGH noch die Frage vor, ob zwei Mitgliedstaaten mit unterschiedlicher Regelung des Leistungsorts für einen Umsatz Besteuerungsvereinbarungen mit Wirkung für und gegen den Steuerpflichtigen treffen können, die im Einzelfall zwar Doppelbesteuerung vermeiden, die aber die grundsätzliche Frage, in welchem der Mitgliedstaaten der Umsatz nach Gemeinschaftsrecht steuerbar ist, offenlassen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 65212

BFH/NV 1994, 74

BFHE 175, 151

BFHE 1995, 151

BB 1994, 1844-1846 (LT)

DB 1994, 1910 (L)

DStR 1994, 1493 (K)

HFR 1995, 33 (LT)

StE 1994, 527 (K)

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