Entscheidungsstichwort (Thema)

"Aufruf zur Sache"

 

Leitsatz (NV)

1. Wird eine Sache nicht i. S. des § 92 Abs. 2 FGO aufgerufen, hat dies nicht zur Folge, daß die Vorschriften über die Öffentlichkeit verletzt wären. Verletzt ist allenfalls die Pflicht zur Gewährung rechtlichen Gehörs.

2. Der "Aufruf zur Sache" wendet sich ausschließlich an die Beteiligten des Rechtsstreits und dient nicht der Herstellung der Öffentlichkeit.

 

Normenkette

FGO § 92 Abs. 2, § 113 Abs. 2 S. 1, § 128 Abs. 2, § 116 Abs. 1 Nrn. 4-5; GVG § 169

 

Verfahrensgang

FG Rheinland-Pfalz

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Verfassungsmäßigkeit einer Begrenzung des Sonderausgabenabzugs. Das Finanzgericht (FG) hat die Klage abgewiesen, ohne die Revision zuzulassen. Die Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision hat der erkennende Senat durch Beschluß vom heutigen Tage als unbegründet zurückgewiesen. Mit der auf § 119 Nr. 5 und 6 der Finanzgerichtsordnung (FGO) gestützten Revision tragen die Kläger und Revisionskläger (Kläger) vor:

Bei der mündlichen Verhandlung seien die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt worden. Am hier fraglichen Sitzungstage habe der Prozeßbevollmächtigte verschiedentlich festgestellt, daß bei Anwesenheit des Bevollmächtigten im Sitzungssaal die jeweilige Sache nicht aufge rufen worden sei. Seine Beanstandungen hätten "in dieser Streitsache die einmalige Folge" gehabt, daß "ein Aufruf erfolgt" sei. Wie im Protokoll über die mündliche Verhandlung vermerkt, sei "die Sache im Gerichtssaal und über Lautsprecher in der Vorhalle aufgerufen" worden. Aus dem Aufruf habe sich jedoch nicht ergeben, daß es sich um eine Verhandlung vor dem FG A handele und daß die Verhandlung im Sitzungssaal ... stattfinde. Mangels "Aufrufs zur Sache" im Rechtssinne sei die Sitzung nicht öffentlich gewesen. Das angefochtene Urteil sei nicht mit Gründen versehen, weil das Gericht auf die ausdrücklich erhobene diesbezügliche Rüge in den Urteilsgründen nicht eingegangen sei.

Die Kläger beantragten, das Protokoll über die mündliche Verhandlung vom ... wie folgt zu ergänzen bzw. zu berichtigen: "Beim Aufruf zur mündlichen Verhandlung wurde durch den Vorsitzenden des Senats nicht erwähnt, daß es sich um eine Sitzung des Finanzgerichts A handele. Es wurde auch nicht bekanntgegeben, daß die Verhandlung im Sitzungssaal ... stattfindet." Das FG hat diesen Antrag auf Ergänzung des Protokolls als unzulässig, den Antrag auf Bezichtigung des Protokolls als unbegründet zurückgewiesen. Das Protokoll sei auch insoweit richtig, als es vermerke: "Die Sache wird im Gerichtssaal und über Lautsprecher in der Vorhalle aufgerufen." Nach der Erinnerung der Richter habe der Vorsitzende in Anwesenheit des Prozeßbevollmächtigten der Kläger die Sache zunächst im Gerichtssaal unter Bezeichnung der Beteiligten, Angabe des Streitgegenstandes und Benennung des Aktenzeichens aufgerufen. Dieser Aufruf wirke nach § 92 Abs. 2, § 62, § 155 FGO i. V. m. § 85 der Zivilprozeßordnung (ZPO) auch gegenüber den durch ihren Bevollmächtigten vertretenen Klägern.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unzulässig. Die Kläger haben Gründe für eine zulassungsfreie Revision nach § 116 Abs. 1 Nr. 4 und 5 FGO nicht schlüssig dargelegt.

1. Zur ordnungsgemäßen Besetzung des X. Senats wird verwiesen auf den Beschluß des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 22. März 1994 X R 66/93 (BFH/NV 1994, 499) und auf den in Betriebs-Berater 1994 Beilage 11 zu Heft 17, S. 1 ff. abgedruckten Beschluß der Vereinigten Großen Senate des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 5. Mai 1994 VGS 1--4/93, insbesondere auf die Ausführungen Seite 5 zum Recht des Vorsitzenden, gemäß § 21 g des Gerichtsverfassungsgesetzes den Berichterstatter "aus dem Kreis der Spruchgruppe" auszuwählen, "die durch Mitwirkungsgrundsätze festgelegt ist". Die einschlägigen ergänzenden Geschäftsverteilungspläne des X. Senats entsprechen schon jetzt den verschärften Grundsätzen, die der BGH erst für die Zeit ab 1. Januar 1995 fordert.

2. Wird eine Sache nicht i. S. des § 92 Abs. 2 FGO aufgerufen, hat dies nicht die Rechtsfolge, daß die Vorschriften über die Öffentlichkeit verletzt wären. Verletzt ist allenfalls die Pflicht des Gerichts zur Gewährung rechtlichen Gehörs. Wenn in allen gerichtlichen Verfahrensordnungen zu Beginn der mündlichen Verhandlung ein "Aufruf der Sache" vorgeschrieben ist, so hat dies den "auf der Hand liegenden Sinn", daß die geladene und erschienene Partei effektiv in die Lage versetzt werden soll zu hören, daß "jetzt" in die mündliche Verhandlung ihrer Sache eingetreten werden soll. Das Bundesverfassungsgericht -- BVerfG -- (Beschluß vom 5. Oktober 1976 2 BvR 558/75, BVerfGE 42, 364) formuliert prägnant: "Damit gibt das Gericht dem Betroffenen gleichsam das ,Startzeichen' zur Wahrnehmung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör." Der Aufruf der Sache soll die anwesenden geladenen Parteien und Beteiligten effektiv in die Lage versetzen, den Termin auch "wahrzunehmen". Die Anforderungen an die Art und Weise des Aufrufens einer Sache hängen von den Umständen ab. Nach Auffassung des BVerfG (a. a. O.) ist es beispielsweise ausreichend, wenn die bereits an den Richtertisch getretenen Anwälte der Parteien vom Gericht aufgefordert werden, mit ihren Ausführungen zu beginnen. Es entspricht einhelliger Auffassung, daß eine Verletzung der Pflicht zum Aufruf der Sache nur unter dem rechtlichen Gesichtspunkt einer Versagung des rechtlichen Gehörs von Bedeutung ist (s. bereits BFH-Urteil vom 9. April 1968 I R 11/68, BFHE 92, 262, BStBl II 1968, 537; Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 12. Juli 1985 6 C 95.82, BVerwGE 72, 28; aus der Literatur statt vieler Tipke /Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 92 FGO Tz. 2; Gräber /Koch, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl. 1993, § 92 Rdnr. 6; Kopp, Verwaltungsgerichtsordnung, 9. Aufl. 1992, § 103 Rdnr. 2; Meyer-Ladewig, Sozialgerichtsgesetz mit Erläuterungen, 5. Aufl. 1993, § 112 Rdnr. 4).

Mit dem Aufruf, daß nunmehr eine Verhandlung "in der Sache ... " beginne, waren die Kläger "effektiv" in die Lage versetzt, den Termin, zu dem sie geladen waren, auch wahrzunehmen.

2. Das FG war nicht gehalten, sich in den Entscheidungsgründen mit den Rechtsfragen des "Aufrufs der Sache" zu befassen. Der Prozeßbevollmächtigte der Kläger hat vorgetragen, auf seine Beanstandung, der Aufruf der Sache lediglich im Gerichtssaal sei nicht prozeßordnungsgemäß, sei die Sache "im Gerichtssaal und über Lautsprecher in der Vorhalle aufgerufen" worden. Das FG konnte daraufhin der Auffassung sein, dessen Beanstandung in vollem Umfange Rechnung getragen zu haben. Daß der Prozeßbevollmächtigte der Kläger auch diesen Aufruf rechtlich beanstandet hätte, hat er selbst nicht vorgetragen. Das Gericht konnte davon ausgehen, daß die Beteiligten des Rechtsstreits, an die sich der Aufruf richtete, sowohl aus der Ladung wie auch aus dem aushängenden Sitzungszettel wußten, welches Gericht in welchem Sitzungssaal nunmehr ihre Sache verhandeln würde.

 

Fundstellen

Haufe-Index 420112

BFH/NV 1995, 233

BFH/NV 1995, 234

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