Entscheidungsstichwort (Thema)

Wirkungen der Aufhebung der Vollziehung eines Steuerbescheids

 

Leitsatz (NV)

1. Maßgebend für die Bestimmung des Zeitpunkts, ab welchem die Wirkungen der Vollziehung eines Steuerbescheids aufzuheben sind, ist im wesentlichen, ab wann ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheides erkennbar vorliegen.

2. § 68 FGO gilt auch in Verfahren nach § 69 FGO entsprechend.

 

Normenkette

FGO §§ 68, 69 Abs. 2-3

 

Verfahrensgang

FG Münster

 

Tatbestand

Die Antragsteller und Beschwerdeführer (Beschwerdeführer) werden zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Bei ihrer Einkommensteuerveranlagung für das Jahr 1983 wich der Antragsgegner und Beschwerdegegner (das Finanzamt - FA -) in einigen Punkten von der eingereichten Steuererklärung ab und setzte die Einkommensteuer 1983 sowie die Einkommensteuervorauszahlungen für 1984 und 1985 durch Bescheide vom 12. November 1984 fest. Gegen diese Bescheide legten die Beschwerdeführer am 12. Dezember 1984 Einsprüche ein, mit denen sie sich gegen die nach ihrer Ansicht nicht gerechtfertigten Abweichungen von ihrer Steuererklärung wandten. Gleichzeitig beantragten sie die Aussetzung der Vollziehung der Bescheide. Durch Schreiben vom 21. Dezember 1984 erläuterte das FA die Abweichung von der Steuererklärung im Rahmen der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung und forderte durch Schreiben vom 7. Februar 1985 Belege an. Diese wurden dem FA mit Schreiben vom 26. Februar 1985 übersandt. Gleichzeitig erinnerten die Beschwerdeführer an die Erledigung ihres Antrages auf Aussetzung der Vollziehung. Durch Verfügung vom 28. Februar 1985 setzte das FA die Vollziehung des Einkommensteuerbescheides 1983 in Höhe des Nachzahlungsbetrages und des Vorauszahlungsbescheides für das IV. Quartal 1984 in Höhe der festgesetzten Vorauszahlung mit Wirkung ab 28. Februar 1985 bis einen Monat nach Bekanntgabe der Entscheidung über die Einsprüche aus. Nachdem die Beschwerdeführer wegen der Einkommensteuervorauszahlungen für das I. Quartal 1985 gemahnt worden waren, erinnerten sie an die Entscheidung über ihren Einspruch vom 12. Dezember 1984 und den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung, wiederholten diesen und baten ,,hilfsweise" um Herabsetzung der Vorauszahlungen auf 0 DM. Durch Verfügung vom 29. Mai 1985 lehnte das FA die Aussetzung der Vollziehung des Einkommensteuervorauszahlungsbescheides ab dem I. Quartal 1985 ab. Am 19. Juni 1985 setzte das FA die Vorauszahlungen für 1984 und 1985 auf 0 DM fest.

Mit geändertem Einkommensteuerbescheid 1983 vom 12. August 1985 gab das FA dem Einspruchsbegehren weitgehend statt, so daß sich der Einkommensteuernachzahlungsbetrag von ursprünglich 9 952 DM auf 518 DM ermäßigte; in Höhe dieses Betrages setzte das FA mit Verfügung vom 11. September 1985 die Vollziehung des geänderten Bescheids ab Fälligkeit aus. Durch die Einspruchsentscheidung vom 5. Februar 1986 verminderte sich das zu versteuernde Einkommen, wodurch sich statt einer Nachzahlung ein Einkommensteuererstattungsbetrag ergab.

Wegen eines am 5. Juni 1985 eingelegten Einspruchs gegen die Ablehnung der beantragten Anpassung der Einkommensteuervorauszahlungen durch Bescheid vom 28. Mai 1985 setzte das FA durch Verfügung vom 5. August 1985 die Vollziehung der Einkommensteuervorauszahlungen 1985 mit Wirkung vom 5. Juni 1985 bis einen Monat nach Bekanntgabe der Entscheidung über den Einspruch aus.

Am 5. Juni 1985 beantragten die Beschwerdeführer beim Finanzgericht (FG), den Einkommensteuerbescheid 1983 sowie den Vorauszahlungsbescheid für 1984 ff. vom 12. November 1984 vom Fälligkeitstag an auszusetzen sowie ,,die Verwirkung von Säumniszuschlägen bis zum Ergehen der gerichtlichen Entscheidung über den auszusetzenden Antrag aufzuheben und das Rückgängigmachen der Vollziehung anzuordnen".

Am 29. Juni 1985 erklärten die Beschwerdeführer die Hauptsache für erledigt, und zwar insoweit, als sie ,,klaglos gestellt sind".

Mit einem weiteren Schreiben vom 29. August 1985 erklärten die Beschwerdeführer, daß sie den Vorauszahlungsbescheid vom 12. August 1985 zum Gegenstand des Verfahrens machen.

Das FG lehnte durch den angefochtenen Beschluß vom 14. Juli 1986 XII 3424/85 V den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ab. Die Aussetzung der Vollziehung ab Fälligkeit könne nicht gewährt werden, da diese grundsätzlich keine Rückwirkung habe. Dem hierin weiter enthaltenen Begehren, die Verwirkung von Säumniszuschlägen aufzuheben, könne ebenfalls nicht entsprochen werden. Der Anspruch auf schon entstandene Säumniszuschläge könne auch nicht durch die Aufhebung der Vollziehung des angefochtenen Steuerbescheids wieder beseitigt werden, denn diese habe ebenfalls keine Rückwirkung. Vollzogen sei ein Verwaltungsakt gemäß § 69 Abs. 3 Satz 4 der Finanzgerichtsordnung (FGO) erst, wenn das in ihm enthaltene Leistungsgebot verwirklicht worden sei, sei es zwangsweise durch Beitreibungsmaßnahmen der Finanzbehörde oder durch freiwillige Leistung des Steuerpflichtigen. Durch die Erhebung von Säumniszuschlägen, die den Steuerpflichtigen zur Leistung anhalten sollen, werde das im Steuerbescheid enthaltene Leistungsgebot nicht unmittelbar selbst verwirklicht. Der Anspruch auf diese Nebenleistung setze gerade voraus, daß der Steuerbescheid noch nicht vollzogen sei. Der im Beschluß vom 23. Juni 1977 V B 41/73 (BFHE 122, 258, BStBl II 1977, 645) geäußerten Ansicht des Bundesfinanzhofs (BFH), daß die Verwirkung der Säumniszuschläge als Mittel zur Vollziehung des Steuerbescheids im Ergebnis doch bereits als Vollzug des Steuerbescheids zu werten sei, könne nicht gefolgt werden.

Die Beschwerdeführer bringen mit ihrer vom FG zugelassenen Beschwerde vor, das FG sei von dem Beschluß des BFH in BFHE 122, 258, BStBl II 1977, 645 abgewichen. Es hätte prüfen müssen, ob das Rechtsinstitut der Aufhebung der Vollziehung auch die kraft Gesetzes eintretende Verwirkung von Säumniszuschlägen ergreife. Danach hätte das FG dem Antrag der Beschwerdeführer stattzugeben gehabt; die Verwirkung von Säumniszuschlägen sei aufzuheben gewesen. Das FG hätte sich auch mit der Frage beschäftigen müssen, ob - hilfsweise - die verwirkten Säumniszuschläge aus Billigkeitsgründen zu erlassen gewesen wären oder doch zumindest die Vollstreckung vor Entscheidung über den Billigkeitsantrag hätte ausgesetzt werden müssen.

Das Rechtsmittel richte sich auch gegen die Kostenentscheidung. Die Quotelung von 2/3 zu 1/3 zu Lasten der Beschwerdeführer sei unverständlich. Durch Bescheid vom 5. August 1985 seien die Einkommensteuervorauszahlungen I bis IV/1985 in Höhe von je 2 509 DM, also insgesamt 10 036 DM, ausgesetzt worden. Bei den Säumniszuschlägen sei es lediglich um einen Betrag von 600 DM gegangen.

Die Beschwerdeführer halten ihre bisherigen Anträge aufrecht.

Das FA beantragt, die Beschwerde als unbegründet zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Beschwerde führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).

Die Beschwerde ist begründet. Die Vorentscheidung steht nicht im Einklang mit der neueren Rechtsprechung des BFH. Hiernach kann das Gericht der Hauptsache nach § 69 Abs. 3 FGO die Vollziehung eines Verwaltungsaktes ganz oder teilweise unter den Voraussetzungen des § 69 Abs. 2 Sätze 2 bis 6 FGO aussetzen. Die Vollziehung soll ausgesetzt werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes bestehen oder wenn die Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte. Ernstliche Zweifel i. S. des § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO sind zu bejahen, wenn bei summarischer Prüfung des angefochtenen Steuerbescheids neben für seine Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung der entscheidungserheblichen Rechtsfrage oder Unklarheit in der Beurteilung von Tatfragen bewirken (vgl. BFH-Beschluß vom 10. Februar 1967 III B 9/66, BFHE 87, 447, BStBl III 1967, 182). Ist der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen, so kann das Gericht ganz oder teilweise die Aufhebung der Vollziehung, auch gegen Sicherheit, anordnen (§ 69 Abs. 3 Satz 4 FGO).

Die vom FG vertretene Ansicht, auch durch die Aufhebung der Vollziehung des angefochtenen Steuerbescheids trete keine Rückwirkung und damit keine Beseitigung der verwirkten Säumniszuschläge ein, ist zwar im Grundsatz zutreffend; sie verkennt aber, daß es für die Bestimmung des Zeitpunktes, ab welchem die Wirkungen der Vollziehung eines Steuerbescheides aufzuheben sind, darauf ankommt, ab wann ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheides erkennbar vorlagen. Wie der BFH im Beschluß vom 10. Dezember 1986 I B 121/86 (BFHE 149, 6, BStBl II 1987, 389) ausgeführt hat, kommt es bei der Aufhebung der Vollziehung für die Bestimmung des Zeitpunkts, ab welchem die Wirkungen der Vollziehung eines Steuerbescheids aufzuheben sind, im wesentlichen darauf an, ab wann ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheides erkennbar vorliegen (vgl. BFHE 149, 6, BStBl II 1987, 389). Der Senat schließt sich diesen Rechtsgrundsätzen an und verweist zur Begründung im einzelnen auf diese Entscheidung.

Die Vorentscheidung, die im Widerspruch zu diesem zeitlich später ergangenen Beschluß des I. Senats steht, kann keinen Bestand haben. Die Sache ist nicht spruchreif.

Das FG hat unter seinem Blickwinkel und unter Berücksichtigung des Umstandes, daß die Einkommensteuerfestsetzung den Grundsätzen der Abschnittsbesteuerung unterliegt, nicht geprüft, seit wann tatsächlich und rechtlich ernstliche Zweifel an dem vom FA erlassenen Einkommensteuerbescheid, der von der Einkommensteuererklärung abwich, bestanden. Hierbei könnte von Bedeutung sein, daß das FA trotz erforderlicher Nachfragen die Veranlagung durchführte. Unklarheiten in der Beurteilung von Tatfragen rechtfertigen aber ebenfalls die Annahme von ernstlichen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit von Steuerbescheiden. Die Vorinstanz wird hierzu die entsprechenden Feststellungen noch nachholen und den Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme geben.

Die Beschwerde hat auch hinsichtlich des Vorauszahlungsbescheids vom 12. August 1985 Erfolg.

§ 68 FGO gilt entgegen den Ausführungen des FG auch im Verfahren nach § 69 FGO entsprechend (vgl. BFH-Beschluß vom 29. April 1971 V B 71/70, BFHE 102, 429, BStBl II 1971, 632, und Urteil vom 5. November 1971 IV R 242/70, BFHE 103, 546, BStBl II 1972, 218; Gräber/von Groll, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl., § 68 Anm. 4; Hübschmann/ Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 8. Aufl., Köln, § 68 FGO Anm. 20; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 68 FGO Tz. 1 am Ende).

Das FG hat die Ablehnung der Anwendung des § 68 FGO damit begründet, daß in dem Ergehen eines neuen Vorauszahlungsbescheides keine Änderung oder Ersetzung eines angefochtenen Verwaltungsaktes vorliege. Dem Senat ist die Überprüfung der Richtigkeit dieser Aussage anhand der Akten nicht möglich, weil ihnen weder der Vorauszahlungsbescheid noch die ihm zugrundeliegenden Erwägungen entnommen werden können, und das FA hierzu im finanzgerichtlichen Verfahren auch keine Stellungnahme abgegeben hat und auch nicht ersichtlich ist, auf welche Vorauszahlungszeiträume sich der Bescheid erstreckt.

 

Fundstellen

Haufe-Index 415797

BFH/NV 1989, 176

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