Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensmangel: Übergangener Beweisantrag und Überraschungsentscheidung

 

Leitsatz (NV)

1. Da der im finanzgerichtlichen Verfahren geltende Untersuchungsgrundsatz eine Verfahrensvorschrift ist, auf deren Einhaltung ein Beteiligter - ausdrücklich oder durch Unterlassen einer Rüge - verzichten kann, gehört zur Darlegung des Verfahrensmangels eines übergangenen Beweisantrags insbesondere der Vortrag, dass die Nichterhebung des angebotenen Beweises in der nächsten mündlichen Verhandlung gerügt wurde oder weshalb diese Rüge nicht möglich war.

2. Eine Überraschungsentscheidung ist nur dann gegeben, wenn das Gericht seine Entscheidung auf einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung einer Vielzahl vertretener Rechtsauffassungen nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht rechnen musste.

 

Normenkette

FGO § 76 Abs. 2, § 96 Abs. 2, § 116 Abs. 3; EStG § 3 Nr. 66; GG Art. 103 Abs. 1

 

Verfahrensgang

Hessisches FG (Urteil vom 29.09.2003; Aktenzeichen 12 K 3252/99)

 

Gründe

Die Beschwerde der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) hat keinen Erfolg.

1. Die Kläger haben einen Verfahrensfehler nicht schlüssig dargelegt, soweit sie rügen, das Finanzgericht (FG) habe die von ihnen schriftsätzlich benannten Zeugen nicht vernommen.

Zur Darlegung des Verfahrensmangels eines übergangenen Beweisantrags i.S. des § 116 Abs. 3 Satz 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) gehört insbesondere der Vortrag, dass die Nichterhebung des angebotenen Beweises in der nächsten mündlichen Verhandlung gerügt wurde oder weshalb diese Rüge nicht möglich war (vgl. z.B. Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 15. November 2001 VII B 40/01, BFH/NV 2002, 373, m.w.N.). Da der im finanzgerichtlichen Verfahren geltende Untersuchungsgrundsatz eine Verfahrensvorschrift ist, auf deren Einhaltung ein Beteiligter --ausdrücklich oder durch Unterlassen einer Rüge-- verzichten kann (§ 155 FGO i.V.m. § 295 der Zivilprozessordnung), hat die unterlassene rechtzeitige Rüge den endgültigen Rügeverlust, so z.B. auch zur Begründung einer Nichtzulassungsbeschwerde, zur Folge.

Die Kläger haben nicht vorgetragen, dass sie in der mündlichen Verhandlung vor dem FG das Unterlassen der Einholung der beantragten Zeugeneinvernahme durch ihre fachkundigen Prozessbevollmächtigten (von denen einer als Zeuge benannt war) gerügt haben. Ausweislich des Protokolls der mündlichen Verhandlung vom 29. September 2003 haben die Prozessbevollmächtigten der Kläger Ausführungen zur Sach- und Rechtslage gemacht, ohne die gestellten Beweisanträge ausdrücklich zu wiederholen. Selbst wenn Herr Wirtschaftsprüfer … zu Beginn der mündlichen Verhandlung die nicht im Sitzungsprotokoll festgehaltene Erklärung abgegeben haben sollte, "für den Fall, dass es um das Zustandekommen des Erlassvertrags und die dabei verfolgten Absichten der Parteien gehe, stehe er jederzeit auch als Zeuge zur Verfügung", kann dies nicht als Wiederholung des Beweisantrags bzw. Rüge gewertet werden. Hinzu kommt, dass ein steuerfreier Sanierungsgewinn nach § 3 Nr. 66 des Einkommensteuergesetzes 1993 (EStG a.F.) nur dann bejaht werden kann, wenn der Gläubiger in Sanierungsabsicht handelt. Das FG hat festgestellt, dass die … "nicht sofort auf ihre Verbindlichkeit verzichtet", sondern den Erlass einer Restschuld "in Aussicht gestellt hat". Hieraus hat es eine fehlende Sanierungsabsicht der Gläubigerin hergeleitet. Das Beschwerdevorbringen der Kläger lässt nicht erkennen, dass die von ihnen benannten Zeugen konkrete entscheidungserhebliche Tatsachen hätten bekunden können, die zu einer anderen Feststellung hätten führen können. Der Hinweis darauf, die dem FG benannten Zeugen hätten bestätigen können, dass die "getroffene Sanierungsvereinbarung von einer entsprechenden Sanierungsabsicht und nicht wie vom Gericht unterstellt von anderen Beweggründen getragen war", ist nicht geeignet, die auf den Vertragsinhalt gestützte Feststellung des FG, das letztlich einen Forderungsverzicht verneint hat, in Zweifel zu ziehen. In dieser Hinsicht war der Beweisantritt und ist das Beschwerdevorbringen nicht hinreichend konkretisiert. Einem unsubstantiierten Beweisantritt braucht ein FG in der Regel nicht nachzugehen (vgl. BFH-Entscheidungen vom 26. Februar 1985 VII R 137/81, BFH/NV 1986, 136; vom 23. Juli 1996 X B 191/95, BFH/NV 1997, 50; Gräber/von Groll, Finanzgerichtsordnung, 5. Aufl. 2002, § 76 Rz. 25, mit weiteren Nachweisen der Rechtsprechung).

Anders als in der von den Klägern angeführten BFH-Entscheidung vom 17. September 2003 I B 18/03 (BFH/NV 2004, 207) war den Klägern eine rechtzeitige Rüge in der mündlichen Verhandlung auch möglich (vgl. dazu Gräber/Ruban, a.a.O., § 120 Rz. 67), weil sich der mit der Beschwerde gerügte Verfahrensverstoß nicht erst aus den Entscheidungsgründen des FG-Urteils ergibt. Bereits die Einspruchsentscheidung des Beklagten und Beschwerdegegners (Finanzamt --FA--) war entscheidend auf die fehlende Sanierungsabsicht der … gestützt und in allen Schriftsätzen der Kläger bzw. des FA im finanzgerichtlichen Verfahren, die sich inhaltlich mit der Frage eines steuerfreien Sanierungsgewinns befassen, finden sich Ausführungen zur Sanierungsabsicht.

2. Da eine Überraschungsentscheidung nur dann gegeben ist, wenn das Gericht seine Entscheidung auf einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht rechnen musste (Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 29. Mai 1991  1 BvR 1383/90, BVerfGE 84, 188; BFH-Urteil vom 17. Februar 1998 VIII R 28/95, BFHE 186, 29, BStBl II 1998, 505), greift angesichts der Tatsache, dass die Sanierungsabsicht der Gläubigerin im Einspruchs- und Klageverfahren thematisiert wurde, auch die Rüge des Verstoßes des FG gegen Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes, § 96 Abs. 2 FGO und § 76 Abs. 2 FGO nicht durch.

3. Die weitere Begründung in den Schriftsätzen vom 2. Juni 2004 zur grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache bzw. zur Fortbildung des Rechts und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung und vom 25. August 2004 ist verspätet, weil sie nicht innerhalb der --am 10. Mai 2004 abgelaufenen-- Beschwerdebegründungsfrist eingegangen ist. Nach ständiger Rechtsprechung ist die Zulässigkeit der Nichtzulassungsbeschwerde insbesondere hinsichtlich der Anforderungen an ihre Begründung grundsätzlich nur nach den innerhalb der Begründungsfrist vorgebrachten Ausführungen zu beurteilen; spätere Darlegungen sind --abgesehen von bloßen Erläuterungen und Ergänzungen-- nicht zu berücksichtigen (Senatsbeschluss vom 29. September 2000 X B 23/00, BFH/NV 2001, 437; Gräber/Ruban, a.a.O., § 116 Rz. 22). Zudem haben die Kläger im Schriftsatz vom 2. Juni 2004 zwar abstrakte Rechtsfragen herausgestellt ("Hat der Verzicht mehr als eines Gläubigers stets die Annahme einer Sanierungsabsicht im Sinne des § 3 Nr. 66 EStG a.F. zur Folge" und "Ist die verbilligte Rückabwicklung von Rechtsgeschäften bzw. deren günstiger Tausch ebenfalls als Verzicht im Sinne des § 3 Nr. 66 EStG a.F. zu werten"), doch fehlen in der verspäteten Beschwerdebegründung Ausführungen, in welchem Umfang, von welcher Seite und aus welchen Gründen die Beantwortung der Rechtsfragen zweifelhaft und strittig ist. Hierzu hätte im Streitfall besondere Veranlassung bestanden, da § 3 Nr. 66 EStG a.F. durch Gesetz vom 29. Oktober 1997 --Gesetz zur Fortsetzung der Unternehmenssteuerreform-- (BGBl I 1997, 2590, BStBl I 1997, 928) ersatzlos gestrichen worden ist.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1266578

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