Entscheidungsstichwort (Thema)

Übergehen von Beweisanträgen; Recht auf Gehör

 

Leitsatz (NV)

1. § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO ist eine Verfahrensvorschrift, auf deren Einhaltung der Prozessbeteiligte ‐ ausdrücklich oder durch Unterlassen den Rüge ‐ verzichten kann (§ 155 FGO i.V. mit § 295 der Zivilprozessordnung).

2. Die Rüge, das FG habe einen Beweisantrag übergangen, erfordert daher u.a. den Vortrag, dass die Nichterhebung der angebotenen Beweise in der mündlichen Verhandlung gerügt wurde oder weshalb die Rüge nicht möglich war.

3. Ergibt sich aus dem Protokoll der mündlichen Verhandlung nicht, dass das Übergehen eines Beweisantrages gerügt wurde, hätte der Beschwerdeführer vortragen müssen, in der mündlichen Verhandlung eine Protokollierung der Rüge verlangt, und ‐ im Falle der Weigerung des Gerichts, die Protokollierung vorzunehmen ‐ eine Protokollberichtigung beantragt zu haben.

4. Eine Verletzung des Rechts auf Gehör durch eine Überraschungsentscheidung ist nicht gegeben, wenn die zwischen den Beteiligten streitige Frage Gegenstand der Erörterungen mit den Beteiligten sowie Thema der Beweisaufnahme war. Wird die danach gewonnene Überzeugung des FG angegriffen, wird kein Verfahrensfehler sondern falsche materielle Rechtsanwendung geltend gemacht.

 

Normenkette

FGO § 115 Abs. 2 Nr. 3, § 116 Abs. 3 S. 3; ZPO § 160 Abs. 4, § 164

 

Verfahrensgang

Hessisches FG (Urteil vom 21.04.2004; Aktenzeichen 9 K 3674/02)

 

Gründe

1. Das Verfahren hinsichtlich der Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten, Beschwerdeführers und Beschwerdegegners (Beklagter) war einzustellen, nachdem dieser seine Beschwerde zurückgenommen hat.

2. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Beigeladenen ist unzulässig. Die Beigeladene hat keinen der in § 115 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) aufgeführten Gründe für die Zulassung der Revision schlüssig i.S. des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO dargelegt. Das erstinstanzliche Urteil ist insbesondere frei von Verfahrensfehlern zustande gekommen.

a) Das Finanzgericht (FG) hat seine Aufklärungspflicht gemäß § 76 FGO nicht dadurch verletzt, dass es den Zeugen K weder geladen noch vernommen hat. Das Vorbringen der Beigeladenen genügt insoweit den Anforderungen des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO bereits deshalb nicht, weil § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO eine Verfahrensvorschrift ist, auf deren Einhaltung der Prozessbeteiligte --ausdrücklich oder durch Unterlassen der Rüge-- verzichten kann (§ 155 FGO i.V.m. § 295 der Zivilprozeßordnung --ZPO--). Die Rüge, das FG habe einen Beweisantrag übergangen, erfordert daher u.a. den Vortrag, dass die Nichterhebung der angebotenen Beweise in der mündlichen Verhandlung gerügt wurde oder weshalb die Rüge nicht möglich war (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. Beschlüsse des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 6. Juni 1994 I B 19-21/94, BFH/NV 1995, 441; vom 19. August 1994 X B 124/94, BFH/NV 1995, 238). Diesen Anforderungen wird die Beschwerde nicht gerecht. Das Übergehen eines Beweisantrages kann nicht mehr mit Erfolg geltend gemacht werden, wenn der Beteiligte den Verfahrensmangel in der mündlichen Verhandlung vor dem FG nicht gerügt hat, obwohl dort zu erkennen war, dass das Gericht den Beweis nicht erheben wird (vgl. BFH-Beschluss vom 31. Januar 1989 VII B 162/88, BFHE 155, 498, BStBl II 1989, 372). Dass die Beigeladene das Übergehen eines Beweisantrages gerügt hätte, ergibt sich aus dem Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 21. April 2004 jedoch nicht. Die Beigeladene hätte daher vortragen müssen, in der mündlichen Verhandlung eine Protokollierung der Rüge verlangt, und --im Falle der Weigerung des Gerichts, die Protokollierung vorzunehmen-- eine Protokollberichtigung gemäß § 94 FGO i.V.m. §§ 160 Abs. 4, 164 ZPO beantragt zu haben (vgl. BFH-Beschluss vom 9. November 1999 II B 14/99, BFH/NV 2000, 582). Dazu fehlt jeglicher Vortrag.

b) Gleiches gilt für die Rüge, die Vernehmung der N als Zeugin habe nicht unterbleiben dürfen. Hier hat die --fachkundig vertretene-- Beigeladene nach ihrem eigenen Vortrag sogar selbst auf die Vernehmung der N verzichtet.

Soweit die Beigeladene sinngemäß vorträgt, sie sei davon ausgegangen, das FG werde zu ihren Gunsten entscheiden, weshalb sie auf die Vernehmung der N als Zeugin verzichtet habe, liegt ein Verfahrensverstoß nicht vor. Zwar verletzt ein Einzelrichter die Grundrechte des fairen Verfahrens und des rechtlichen Gehörs, wenn er einen rechtlichen Hinweis gibt und er später im Urteil entgegengesetzt entscheidet, ohne die Verfahrensbeteiligten auf die Änderung der rechtlichen Beurteilung hinzuweisen (Beschluss des Bundesverfassungsgerichts --BVerfG-- vom 15. August 1996  2 BvR 2600/95, Neue Juristische Wochenschrift --NJW-- 1996, 3202; BFH-Beschluss vom 7. Juli 2003 VIII B 228/02, BFH/NV 2003, 1440). Hier ist jedoch weder vorgetragen noch ersichtlich, dass der Einzelrichter einen rechtlichen Hinweis gegeben hätte. Nach dem eigenen Vortrag der Beigeladenen hat der Einzelrichter lediglich angeregt, auf die Vernehmung der N in deren Interesse zu verzichten.

c) Das Recht der Beigeladenen auf rechtliches Gehör ist nicht dadurch verletzt worden, dass das FG eine Überraschungsentscheidung getroffen hätte. Nach der ständigen Rechtsprechung des BFH liegt eine Überraschungsentscheidung vor, wenn das Gericht seine Entscheidung auf einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt gestützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gegeben hat, mit der alle oder einzelne Beteiligte nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht rechnen mussten (vgl. z.B. BFH-Urteile vom 24. April 1990 VIII R 170/83, BFHE 160, 256, BStBl II 1990, 539; vom 31. Juli 1991 VIII R 23/89, BFHE 165, 398, BStBl II 1992, 375). Im Streitfall war die einzig streitige Frage der Haushaltsaufnahme der Kinder N und J jedoch Gegenstand eingehender Erörterung mit den Beteiligten sowie der Beweisaufnahme. Wenn die Beigeladene die danach gewonnene Überzeugung des FG angreift, verkennt sie, dass sie damit keinen Verfahrensfehler, sondern falsche materielle Rechtsanwendung geltend macht. Im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde kann sie damit aber nicht gehört werden (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom 29. Oktober 1998 X B 132/98, BFH/NV 1999, 510; vom 4. August 1999 IV B 96/98, BFH/NV 2000, 70).

d) Mit dem Vortrag, das FG habe den Inhalt der Akten falsch bewertet, macht die Beigeladene ebenfalls geltend, dass die erstinstanzliche Entscheidung materiell-rechtlich unrichtig sei. Damit kann sie die Zulassung der Revision nicht erreichen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1343221

BFH/NV 2005, 1102

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