Entscheidungsstichwort (Thema)

Zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei zuckerkrankem Prozeßbevollmächtigten

 

Leitsatz (NV)

Befindet sich ein zuckerkranker Prozeßbevollmächtigter - für ihn erkennbar - in einem mit Bewußtseinsstörungen verbundenen Unterzuckerungszustand, muß er sich vergewissern, ob ein Schreiben mit einem Antrag auf Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist, von dem er meint, er hätte es fünf Tage vor Ablauf der Frist in einen Briefkasten geworfen, bei dem Bundesfinanzhof angelangt ist.

 

Normenkette

FGO §§ 56, 120 Abs. 1

 

Tatbestand

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist mit ihrer Klage vor dem Finanzgericht (FG) unterlegen. Sie hat Revision eingelegt. Im Revisionsverfahren wird sie von Steuerberater W und Wirtschaftsprüfer Steuerberater G (Prozeßbevollmächtigte) vertreten. Bis zum Ablauf der antragsgemäß verlängerten Revisionsbegründungsfrist (31. Juli 1985) lag keine Revisionsbegründung vor. Der Prozeßbevollmächtigte G beantragte mit Schriftsatz vom 9. August 1985, der am 13. August 1985 einging, ,,nochmals" Fristverlängerung bis zum 20. September 1985. Der Vorsitzende des Senats teilte den Prozeßbevollmächtigten mit Schreiben vom 19. August 1985 - zugestellt am 21. August 1985 - mit, daß er dem Fristverlängerungsantrag nicht entsprechen könne, da dieser erst nach Ablauf der verlängerten Revisionsbegründungsfrist gestellt worden sei.

Die Revisionsbegründung ging am 28. August 1985 ein. Gleichzeitig beantragte der Prozeßbevollmächtigte G für die Klägerin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und trug zur Begründung vor: Er sei seit 1961 zuckerkrank. Insbesondere im Zustand der Unterzuckerung leide er unter Kopfschmerzen und starken Konzentrationsstörungen; im Extremfall könne Bewußtlosigkeit eintreten. Er befinde sich unter ständiger ärztlicher Beobachtung und glaube auch, die Reaktionen seines Körpers zu kennen. Letztmals habe er mit einem Unterzuckerungsschock 1978 im Krankenhaus gelegen; ansonsten habe er seiner Arbeit nachgehen können; erst vor kurzem habe er das Wirtschaftsprüferexamen abgelegt. Ausschlußfristen habe er bisher nicht versäumt. Mitte Juli 1985 habe sich sein Gesundheitszustand verschlechtert. Die schon vorbereitete Revisionsbegründungsschrift habe er im Hinblick auf ein gerade veröffentlichtes BFH-Urteil nochmals überarbeiten wollen. Infolge der aufgetretenen Konzentrationsstörungen sei ihm dies jedoch nicht möglich gewesen. Er habe deshalb eine weitere Verlängerung der Begründungsfrist erwirken wollen, am 26. Juli 1985 abends einen Fristverlängerungsantrag abgefaßt, den seine Frau geschrieben habe. Er habe ihn unterschrieben und zu dem ca. 100 m entfernten Briefkasten gebracht. Da er aber ,,auch an diesem Abend wieder mit Unterzuckerungserscheinungen zu kämpfen" gehabt hätte, könne er ,,nicht mit Bestimmtheit die Durchführung dieses Vorhabens bestätigen".

In einem weiteren Schriftsatz vom 29. November 1985 trägt der Prozeßbevollmächtigte G ergänzend vor: Er sei fest davon überzeugt gewesen, daß er den Fristverlängerungsantrag in den Briefkasten eingeworfen habe. Erst aus dem Schreiben des Senatsvorsitzenden habe er am 21. August 1985 erfahren, daß der Antrag nicht bei dem BFH eingegangen sei. Innerhalb der Zweiwochenfrist des § 56 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) habe er die Revisionsbegründung und den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand eingereicht. Das Fristverlängerungsschreiben vom 9. August 1985 habe er in der Vorstellung abgefaßt, daß die am 26. Juli 1985 beantragte Fristverlängerung bis zum 31. August 1985 zu knapp bemessen sein würde. Mit der Verwendung des Wortes ,,nochmals" habe er an den früheren Antrag anknüpfen wollen. Er könne sich nur noch daran erinnern, daß er am 26. Juli 1985 zum Briefkasten gegangen sei. ,,Der Vorgang des Einwerfens sowie der Rückkehr" sei ihm ,,nicht mehr deutlich bewußt". Um den 31. Juli 1985 habe er dem Leiter des Rechnungswesens der Klägerin gesagt, daß er einen Fristverlängerungsantrag bereits gestellt habe.

Dem letztgenannten Schriftsatz war eine eidesstattliche Versicherung der Ehefrau des Prozeßbevollmächtigten G beigefügt, in dem sie angibt, daß sie den Fristverlängerungsantrag geschrieben habe. Ihr Mann habe den Brief selbst einwerfen wollen. Erst nach seiner Rückkehr vom Briefkasten sei ihr bewußt geworden, daß er eine schwere Unterzuckerung gehabt hätte.

Die Klägerin beantragt weiter, ihr Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unzulässig.

Die Revision ist innerhalb eines Monats einzulegen und spätestens innerhalb eines weiteren Monats zu begründen; die Frist für die Revisionsbegründung kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag durch den Vorsitzenden des zuständigen Senats des BFH verlängert werden (§ 120 Abs. 1 FGO). Die bereits einmal bis zum 31. Juli 1985 verlängerte Revisionsbegründungsfrist lief ab, ohne daß bis zu diesem Zeitpunkt die Revisionsbegründung eingereicht noch ein Fristverlängerungsantrag eingegangen war. Der Fristverlängerungsantrag, den der Prozeßbevollmächtigte G nach seinen Angaben am 26. Juli 1985 abgesandt haben will, hat den BFH nicht erreicht. Der am 13. August 1985 eingegangene Fristverlängerungsantrag konnte - da erst nach Ablauf der Frist eingegangen - nicht mehr berücksichtigt werden.

Der Klägerin kann wegen der Versäumnis der Revisionsbegründungsfrist keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden. Die Klägerin war nicht ohne Verschulden verhindert, die Revisionsbegründungsfrist einzuhalten (§ 56 Abs. 1 FGO). Dabei muß sie sich ein Verschulden ihres Prozeßbevollmächtigten G zurechnen lassen; andererseits kommen ihr Entschuldigungsgründe aus der Person des Prozeßbevollmächtigten zugute. Auch wenn zugunsten der Klägerin das Vorbringen und die Glaubhaftmachungen ihres Prozeßbevollmächtigten in dem nachgereichten Schriftsatz vom 29. November 1985 berücksichtigt werden und überdies ein tatsächlicher Geschehensablauf, so wie er vom Prozeßbevollmächtigten geschildert wird, zugrunde gelegt wird (Beschluß des Bundesgerichtshofs - BGH - vom 18. Januar 1984 IVb ZB 112/83, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung - HFR - 1985, 130), ist ein Verschulden des Prozeßbevollmächtigten an der Fristversäumnis zu bejahen.

Es kann dahingestellt bleiben, ob ein Verschulden des Prozeßbevollmächtigten bereits darin zu finden ist, daß er nach der Verschlechterung des Gesundheitszustands Mitte Juli 1985 keine Vorkehrungen traf, um Fristensachen wie die des Streitfalls seinem Sozius zur Bearbeitung zu übertragen oder diesen wenigstens beobachtend einzuschalten. Immerhin war dem Prozeßbevollmächtigten bekannt, daß der Eintritt einer Unterzuckerung zu vorübergehenden Bewußtseinsstörungen führen konnte. Der BGH hält einen Prozeßbevollmächtigten sogar für verpflichtet, für den Fall plötzlicher Erkrankung Vorsorge zu treffen (BGH-Urteil vom 7. Mai 1982 V ZR 233/81, HFR 1983, 383). Hierzu braucht nicht abschließend Stellung genommen zu werden. Der Prozeßbevollmächtigte G verhielt sich jedenfalls in der Situation nach Abfassung des Fristverlängerungsantrags vom 26. Juli 1985 schuldhaft.

Er kann sich nicht mehr daran erinnern, ob er das Schreiben an den BFH tatsächlich in den Briefkasten eingeworfen hat. Nach seiner Schilderung, die von seiner Frau bestätigt worden ist, befand er sich nach der Rückkehr von dem Gang zum Briefkasten in einem akuten Unterzuckerungszustand, der mit Bewußtseinsstörungen verbunden war. Wenn er auch den Brief nicht mehr mit nach Hause zurückbrachte, mußte er doch ernsthaft damit rechnen, daß der Brief nicht in den Briefkasten gelangt war, er ihn vielmehr unterwegs verloren haben konnte. Selbst wenn er fest damit rechnete, daß das Schreiben in den Briefkasten gelangt war, ergab sich für ihn die Verpflichtung, sich in den nächsten Tagen bis zum Ablauf der Revisionsbegründungsfrist zu vergewissern, ob das Schreiben tatsächlich bei dem BFH eingegangen war. Hierüber hätte er sich durch telefonische Rückfragen bei der Geschäftsstelle des Senats ab Montag, dem 29. Juli 1985, vergewissern können. Hätte er sich so verhalten, hätte er noch die Möglichkeit gehabt, einen weiteren rechtzeitigen Fristverlängerungsantrag anzubringen. Zwar muß sich ein Prozeßbevollmächtigter im allgemeinen nicht nach dem Schicksal eines kurz vor Ablauf der Rechtsmittelbegründungsfrist abgesandten Fristverlängerungsantrags erkundigen (BFH-Urteil vom 10. Dezember 1974 VIII R 128/70, BFHE 114, 330, BStBl II 1975, 338; BGH-Beschluß vom 2. Februar 1983 VIII ZB 1/83, HFR 1983, 541). Das gilt jedoch nur für den hier nicht vorliegenden Fall, daß der Prozeßbevollmächtigte gewiß sein kann, den Fristverlängerungsantrag abgesandt zu haben.

Der Prozeßbevollmächtigte hat sich nicht dazu geäußert, ob der Unterzuckerungszustand und die Bewußtseinsstörungen auch noch am 29. Juli 1985 und in den Folgetagen andauerten. Immerhin konnte er um den 31. Juli 1985 mit dem Leiter des Rechnungswesens der Klägerin ein Gespräch über den Streitfall und die Möglichkeit der Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist führen. Hieraus läßt sich schließen, daß er zumindest am 31. Juli 1985 in der Lage war, ein Telefongespräch nach München zu führen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 414511

BFH/NV 1986, 549

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