Entscheidungsstichwort (Thema)

Heilung des Zustellungsmangels bei öffentlicher Zustellung durch Zusendung einer Kopie; Voraussetzungen des Vorsteuerabzuges

 

Leitsatz (NV)

  1. Ein Verstoß gegen die Voraussetzungen einer öffentlichen Zustellung schließt die Anwendbarkeit des § 9 Abs. 1 VwZG nicht aus.
  2. Die Heilung des Zustellungsmangels nach § 9 Abs. 1 VwZG tritt ein, wenn die Behörde dem Empfangsbevollmächtigten eine Kopie übersendet, welche den fehlerhaft bekannt gegebenen Steuerbescheid nach Inhalt und Fassung vollständig wiedergibt.
  3. Der Abzug der in der Rechnung einer GmbH ausgewiesenen Umsatzsteuer ist nur möglich, wenn der in der Rechnung angegebene Sitz der GmbH bei Ausführung der Leistung und bei Rechnungstellung tatsächlich bestanden hat.
 

Normenkette

UStG § 15; VwZG §§ 9, 15

 

Tatbestand

I. Die Antragstellerin und Beschwerdeführerin (Antragstellerin) begehrt Prozesskostenhilfe (PKH) für ihre Klage wegen Umsatzsteuer 1995 bis 1997.

Die Antragstellerin hatte vom 1. Juni 1995 bis 31. Dezember 1996 ein Gewerbe für Import und Export von Waren aller Art unter dem Firmennamen I und vom April 1996 bis zur Gewerbeuntersagung im Februar 1998 den Handel mit Küchen, Fenstern, Türen und Kleinmöbeln als Gewerbe angemeldet.

Nachdem anlässlich von Ermittlungen der Steuerfahndung bei Kfz-Händlern wegen des Verdachts der Umsatzsteuerhinterziehung durch Vorsteuererschleichung (Mehrfachexporte von Kfz) Rechnungen der Antragstellerin über Verkäufe von Kfz der Marke Mercedes-Benz vorgelegt worden waren, stellte die Steuerfahndung fest, dass die Antragstellerin ―gegen die inzwischen ein Steuerstrafverfahren eingeleitet worden war― in der Zeit vom August 1995 bis zum Oktober 1996 insgesamt 281 Rechnungen über den Verkauf von Kfz der Marke Mercedes-Benz, vornehmlich Luxusfahrzeuge der S-Klasse, erstellt hat. Die Antragstellerin gab hierzu an, sie habe diese Fahrzeuge sämtlich von der Firma S Im- und Export GmbH erworben; zu einem großen Teil waren auch Einkaufsrechnungen vorhanden. Bei einer Ortsbesichtigung an dem in den Rechnungen angegebenen Geschäftssitz der S in J stellte die Steuerfahndung fest (Aktenvermerk vom 27. März 1996), dass die S lediglich bei der Z Dienstleistungen GmbH einen Telefonanschluss gemietet hat und sich die Post an eine Kanzlei nach K nachsenden ließ. Ein Firmenschild war nicht vorhanden. Der Geschäftsführer der S, Herr A, war nicht anzutreffen und im Übrigen den Mitarbeitern des Dienstleistungsunternehmens nicht bekannt. Anlässlich einer weiteren Ortsbesichtigung ―aufgrund der Angaben der Antragstellerin in B― stellte die Steuerfahndung fest, dass es dort zwar eine Straße mit dem gleichen Straßennamen, aber keine Hausnummer 15 gibt (Aktenvermerk vom 25. April 1996).

Der Beklagte (das Finanzamt ―FA―) vertrat deshalb im Anschluss an die Steuerfahndung die Auffassung, es handele sich um Scheingeschäfte, weil die S unter der angegebenen Adresse keinen Geschäftssitz gehabt habe und alle Umstände darauf hinwiesen, dass tatsächlich keine Lieferungen durchgeführt worden seien. Demzufolge habe die Antragstellerin keine steuerpflichtigen Umsätze erzielt und deshalb auch keinen Vorsteueranspruch. Sie schulde jedoch die Umsatzsteuer gemäß § 14 Abs. 3 des Umsatzsteuergesetzes (UStG).

Im Verlauf des Steuerstrafverfahrens erteilte die Antragstellerin den jetzigen Prozessbevollmächtigten am 4. April 1996 eine Strafprozessvollmacht sowie eine Vollmacht "… in Sachen …", die sich im Original in der Einkommensteuerakte des FA (Veranlagungszeitraum 1996) befindet. Zudem beauftragte die Antragstellerin einen Steuerberater, der für sie u.a. die Umsatzsteuer-Jahreserklärung für 1995 fertigte, die am 3. Juli 1996 beim FA einging. Darin erklärte die Antragstellerin einen Jahresumsatz in Höhe von … DM, Umsatzsteuer in Höhe von … DM und Vorsteuern in Höhe von … DM. Umsatzsteuer-Jahreserklärungen für die Jahre 1996 und 1997 liegen nicht vor.

Das FA setzte im Anschluss an die Feststellungen der Steuerfahndung die Umsatzsteuer für 1995 auf … DM und für 1996 auf … DM und die Umsatzsteuer für 1997 auf 0 DM fest.

Da das FA weder den Aufenthaltsort noch den Wohnsitz der Antragstellerin ermitteln konnte, stellte es die Bescheide vom 22. September 1998 öffentlich zu. Der Aushang erfolgte am 22. September 1998. Nachdem dem FA am 23. September 1998 der aktuelle Wohnsitz der Antragstellerin bekannt geworden war, informierte es diese am 25. September 1998 über die öffentliche Zustellung. Auf den Einspruch der Antragstellerin gegen die Umsatzsteuerbescheide 1995 bis 1997 übersandte das FA deren Prozessbevollmächtigten Kopien der Steuerbescheide, deren Empfang diese mit Schriftsatz vom 6. November 1998 bestätigten.

Eine Übersendung der Originalbescheide lehnte das FA unter Berufung auf das Verwaltungszustellungsgesetz (VwZG) ab.

Über die nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobene Klage ist noch nicht entschieden. Den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung (AdV) hat das Finanzgericht (FG) mit Beschluss vom 1. Oktober 1999 abgelehnt und hierzu ausgeführt:

Der Antrag auf AdV des Umsatzsteuerbescheides 1997 sei mangels Rechtsschutzbedürfnis unzulässig, weil er wegen der Festsetzung der Umsatzsteuer auf 0 DM nicht zu einer Zahlungspflicht der Antragstellerin führe. Im Übrigen sei der Antrag unbegründet. Entgegen der Auffassung der Antragstellerin seien ihr die Umsatzsteuerbescheide wirksam i.S. von § 124 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) bekannt gegeben worden. Auch wenn möglicherweise die öffentliche Zustellung an die Antragstellerin im September 1998 gemäß § 15 VwZG rechtswidrig gewesen sein sollte, weil zu diesem Zeitpunkt die schriftliche Vollmacht der Antragstellerin vom 4. April 1996 in der Einkommensteuerakte vorlag und keine Anhaltspunkte für deren Widerruf vorgelegen hätten, seien den Prozessbevollmächtigten mit Schriftsatz vom 3. November 1998 die Kopien der Steuerbescheide übersandt worden. Für die Wirksamkeit der Bekanntgabe genüge der Empfang einer nach Inhalt und Fassung vollständigen Kopie des Steuerbescheides.

Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Steuerbescheide beständen nicht, denn der Abzug der in den Rechnungen einer GmbH ausgewiesenen Umsatzsteuer gemäß § 15 UStG sei nur zulässig, wenn der in den Rechnungen angegebene Sitz der GmbH bei Ausführung der Leistung und bei Rechnungsstellung tatsächlich bestanden habe. Dies sei nach Aktenlage und unter Berücksichtigung präsenter Beweismittel nicht der Fall. Auch mit ihrem Einwand, sie habe die Kfz telefonisch gekauft und nach Lieferung den Kaufpreis bar an den Geschäftsführer der S oder dessen Mitarbeiter bezahlt, habe die Antragstellerin weder dargetan noch glaubhaft gemacht, dass die telefonischen Bestellungen über den von der S gemieteten Telefonanschluss gelaufen seien oder die Bezahlung am "Sitz" der S erfolgt sei. Auch der Einwand der Antragstellerin, das FG … habe in einem anderen Verfahren entschieden, die S sei keine Scheinfirma und habe tatsächlich einen Geschäftssitz, führe zu keiner anderen Beurteilung. Zum einen habe die Antragstellerin nicht dargetan, dass der vom FG … angenommene Sitz der S mit dem in den Rechnungen angegebenen Sitz übereingestimmt habe. Im Übrigen habe sie die Entscheidung des FG … nicht vorgelegt.

Unter Hinweis auf die Begründung in der Aussetzungssache hat das FG den Antrag auf PKH abgelehnt. Hiergegen richtet sich die vorliegende Beschwerde. Die Antragstellerin macht im Wesentlichen geltend, aus dem der Beschwerde beigefügten neutralisierten Beschluss des FG … vom 29. Oktober 1996 ergebe sich, dass die S keine Scheinfirma sei.

Die Antragstellerin beantragt sinngemäß, ihr unter Aufhebung der Vorentscheidung PKH für die Klage vor dem FG wegen Umsatzsteuer 1995 bis 1997 zu gewähren.

Das FA ist der Beschwerde entgegengetreten.

 

Entscheidungsgründe

II. Die Beschwerde ist unbegründet.

Das FG hat den Antrag auf Bewilligung von PKH ohne Rechtsverstoß abgelehnt.

Die beabsichtigte Rechtsverfolgung bietet nach der für das PKH-Verfahren gebotenen summarischen Beurteilung (vgl. z.B. Beschluss des Bundesfinanzhofs ―BFH― vom 5. März 1998 VII B 36/97, BFH/NV 1998, 1325) keine hinreichende Aussicht auf Erfolg (§ 114 der Zivilprozeßordnung ―ZPO―, § 142 der Finanzgerichtsordnung ―FGO―). Das FG hat es nach Aktenlage im Zeitpunkt seiner Entscheidung nicht für wahrscheinlich gehalten, dass die Klage der Antragstellerin Aussicht auf Erfolg hat. Diese Bewertung ist nicht zu beanstanden. Das Beschwerdevorbringen rechtfertigt keine andere Entscheidung.

1. Keine Aussicht auf Erfolg hat die Klage wegen Umsatzsteuer 1997, weil für eine Klage gegen einen auf 0 DM lautenden Umsatzsteuerbescheid jedenfalls kein Rechtsschutzbedürfnis besteht, sofern kein Vorsteuerüberhang geltend gemacht wird (vgl. BFH-Urteil vom 12. August 1993 V R 26/91, BFH/NV 1994, 747).

2. Zu Recht geht das FG davon aus, dass die Bescheide wirksam zugestellt worden sind.

Nach § 9 Abs. 1 VwZG gilt ein Schriftstück, dessen formgerechte Zustellung sich nicht nachweisen lässt oder das unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften zugegangen ist, als in dem Zeitpunkt zugestellt, in dem es der Empfangsberechtigte nachweislich erhalten hat. Ein Verstoß gegen die Voraussetzungen einer öffentlichen Zustellung nach § 15 VwZG schließt die Anwendbarkeit des § 9 Abs. 1 VwZG nicht aus (vgl. BFH-Urteile vom 5. März 1985 VII R 156/82, BFHE 143, 220, BStBl II 1985, 597, 598; vom 15. Januar 1991 VII R 86/89, BFH/NV 1992, 81). § 9 Abs. 2 VwZG steht der Annahme einer Heilung von Zustellungsmängeln nicht entgegen, wenn ―wie im Streitfall bei der Bekanntgabe bzw. Zustellung der Umsatzsteuerbescheide― mit der Zustellung keine der in der Vorschrift genannten Fristen in Gang gesetzt wurde (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 25. Oktober 1995 I R 16/95, BFHE 179, 202, BStBl II 1996, 301). Die Heilung einer fehlgeschlagenen Bekanntgabe bzw. Zustellung nach § 9 Abs. 1 VwZG tritt ein, wenn die Behörde ―wie hier― dem Empfangsbevollmächtigten eine Kopie übersendet, welche den fehlerhaft bekannt gegebenen Steuerbescheid nach Inhalt und Fassung vollständig wiedergibt (z.B. BFH-Urteile vom 5. Oktober 1999 VII R 25/98, BFH/NV 2000, 235; vom 4. Oktober 1989 V R 39/84, BFH/NV 1990, 409).

3. Ist, wie im Streitfall, lediglich der Sachverhalt streitig, so ist die Erfolgsaussicht der Rechtsverfolgung nur zu bejahen, wenn das Gericht in tatsächlicher Hinsicht von der Möglichkeit der Beweisführung durch den Antragsteller im Klageverfahren überzeugt ist (vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 30. August 1994 VII B 71/94, BFH/NV 1996, 375, m.w.N.). Nach Aktenlage hat das FG zu Recht auch insoweit einen Erfolg der Klage für unwahrscheinlich gehalten.

Nach § 15 UStG setzt der Vorsteuerabzug voraus, dass ein anderer Unternehmer entgeltliche Lieferungen oder sonstige Leistungen für das Unternehmen des vorsteuerabzugsberechtigten Unternehmers ausgeführt hat und die hierfür geschuldete Umsatzsteuer in einer Rechnung gesondert ausgewiesen hat. Der Abzug der in der Rechnung einer GmbH ausgewiesenen Umsatzsteuer ist nur möglich, wenn die GmbH die in der Rechnung ausgewiesenen Umsätze ausgeführt hat und wenn diese Voraussetzungen anhand der Angaben in der Rechnung durch die Finanzverwaltung nachgeprüft werden können. Davon ist nicht auszugehen, wenn der in der Rechnung angegebene Sitz der GmbH bei Ausführung der Leistung und bei Rechnungsstellung tatsächlich nicht bestanden hat (z.B. Senatsbeschluss vom 11. März 1999 V B 135/98, BFH/NV 1999, 1253; Senatsurteil vom 27. Juni 1996 V R 51/93, BFHE 181, 197, BStBl II 1996, 620). Nach den bisherigen Feststellungen kann nicht davon ausgegangen werden, dass der in den Rechnungen angegebene Sitz der S bei Ausführung der Leistung und bei Rechnungsstellung tatsächlich bestand. Unter der angegebenen Adresse war nach den bisherigen Feststellungen weder ein Hinweis auf die S noch hatte diese dort eigene Geschäftsräume; der "Geschäftssitz" bestand lediglich in einem bei der Z Dienstleistungen GmbH gemieteten Telefonanschluss. Eingehende Post wurde wiederum über eine Vermittlungsstelle, eine Kanzlei in K, an den Geschäftsführer der S, Herr A, übermittelt, der den Mitarbeitern der Dienstleistungs-GmbH persönlich nicht bekannt war. Finden sich unter der in der Rechnung angegebenen Anschrift keine eigenen Geschäftsräume, sondern lediglich eine nicht in Anspruch genommene Telefonleitung und eine Briefempfangsstelle, so reicht dies nicht aus, um den Sitz einer GmbH, die in großem Umfang Kfz im- und exportiert, als Gesellschaftssitz nachzuweisen.

Aus dem zur Begründung der Beschwerde von der Antragstellerin vorgelegten Beschluss des FG … vom 29. Oktober 1996 ergeben sich ―auch wenn man davon ausgeht, dass mit der Abkürzung "S" die S-GmbH mit der in den an die Klägerin gerichteten Rechnungen angegebenen Adresse gemeint ist― keine anderen Gesichtspunkte. Der Beschluss beschäftigt sich mit der für die Frage des Vorsteuerabzugs im Streitfall nicht erheblichen Frage, ob es sich bei der S-GmbH um eine Scheinfirma handelt bzw. ob die dort streitigen Umsätze Scheingeschäfte sind. Auch das FG … geht jedoch davon aus, dass es sich bei der angegebenen Adresse in … nur um eine Briefkastenanschrift handelt (unter B. I. 5. a). Nachdem die Antragstellerin selbst nicht behauptet, geschäftlichen Kontakt mit der S über deren angegebenen Firmensitz gehabt zu haben und der Geschäftsführer der GmbH an der angegebenen "Sitz"-Adresse nicht einmal bekannt war, scheint insoweit jedenfalls feststellbar zu sein, dass am angegebenen Firmensitz keinerlei Geschäftsleitungs- oder Arbeitgeberfunktion, Behördenkontakte oder Zahlungsverkehr stattgefunden haben. Dies reicht bei einer GmbH ohne eigene Geschäftsräume, die im großen Umfang Autos im- und exportiert, nicht aus.

 

Fundstellen

Haufe-Index 426245

BFH/NV 2000, 1252

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