Entscheidungsstichwort (Thema)

Verletzung des rechtlichen Gehörs; Verfahrensfehler; Darlegung der Revisionszulassungsvoraussetzungen

 

Leitsatz (NV)

1. Die Gewährung rechtlichen Gehörs besteht in der Verschaffung einer ausreichenden Gelegenheit zur Äußerung; inwieweit diese Gelegenheit wahrgenommen wird, ist Sache der Beteiligten.

2. Verfahrensfehler i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO sind Verstöße gegen das Gerichtsverfahrensrecht, die das FG bei der Handhabung seines Verfahrens begeht und die zur Folge haben, dass eine ordnungsgemäße Grundlage für die Entscheidung im Urteil fehlt (BFH-Beschluss vom 30. Juni 1999 XI B 66/98, BFH/NV 1999, 1620), z.B. ein Verstoß gegen § 76 FGO (Verletzung der Sachaufklärungspflicht) oder gegen § 96 FGO (Nichtberücksichtigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens; Verstoß gegen den klaren Inhalt der Akten; Verletzung des rechtlichen Gehörs, die Vorwegnahme der Beweiswürdigung oder die vermeintliche Bindung an nicht bestehende Beweisregeln).

3. Bei den Zulassungsgründen des § 115 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 FGO sind gemäß § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO substantielle und konkrete Angaben erforderlich, weshalb eine Entscheidung des Revisionsgerichts über eine bestimmte Rechtsfrage aus Gründen der Rechtsklarheit, der Rechtsfortbildung oder der Einheitlichkeit der Rechsprechung im allgemeinen Interesse liegt, insbesondere auch, warum auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung die Rechtsfrage nicht beantwortet werden kann. Allein der Vortrag, dass die Klärung einer bestimmten Rechtsfrage der Rechtsfortbildung dienen könnte, reicht für eine schlüssige Revisionsrüge nicht aus.

 

Normenkette

FGO §§ 76, 96 Abs. 2, § 115 Abs. 2, § 116 Abs. 3 S. 3

 

Verfahrensgang

FG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 19.10.2004; Aktenzeichen 2 K 2063/04)

 

Tatbestand

I. Die Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) werden zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) berücksichtigte die jeweils in den betreffenden Veranlagungszeiträumen gezahlte Kirchensteuer als Sonderausgaben. Aufgrund eines Änderungsbescheides für das Streitjahr 1999 vom 1. Oktober 2002, mit dem ein Verlustrücktrag aus dem Jahr 2000 berücksichtigt wurde, ergab sich eine Kirchensteuererstattung von 458,69 € (rund 897 DM). Da eine Verrechnung mit im Veranlagungszeitraum 2002 gezahlter Kirchensteuer nicht möglich war, korrigierte das FA gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) mit Änderungsbescheid vom 10. März 2004 den seinerzeit vorgenommenen Abzug von Kirchensteuer; die bisher als Sonderausgabe in Höhe von 1 398 DM angesetzte Kirchensteuer wurde um 897 DM herabgesetzt, so dass im Ergebnis nur noch Kirchensteuer in Höhe von 501 DM als Sonderausgabe abgezogen wurde. Einspruch und Klage hatten keinen Erfolg. Nach Auffassung des Finanzgerichts (FG) sei erstattete Kirchensteuer aus Gründen der Praktikabilität mit im Jahr der Erstattung gezahlter Kirchensteuer zu verrechnen. Sei das nicht möglich, sei eine Korrektur des ursprünglichen Sonderausgabenabzugs geboten. Das FG stützte sich dabei u.a. auf den Beschluss des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 5. Mai 2004 XI B 27/04 (BFH/NV 2004, 1365) und auf das (seinerzeit) noch nicht veröffentlichte Urteil vom 8. September 2004 XI R 28/04 (BFH/NV 2005, 321). Soweit andere Sonderausgaben wie z.B. Versicherungsbeiträge nicht abgezogen worden seien, seien diese mit Kirchensteuerzahlungen nicht vergleichbar. Im Übrigen seien die Versicherungsbeiträge mit den jeweiligen Höchstbeträgen entsprechend berücksichtigt worden.

Mit der Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision machen die Kläger geltend:

1. Das FG-Urteil beruhe auf der Verletzung rechtlichen Gehörs. Der Vorsitzende habe in der Verhandlung auf ein noch nicht veröffentlichtes Urteil des BFH zurückgegriffen; bis heute sei das Urteil nicht zugänglich.

2. Im Jahr 2000 seien Vorsorgeaufwendungen in Höhe von 18 008 DM angefallen, die nach § 10 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) mindestens in Höhe von 7 830 DM zu berücksichtigen gewesen wären. Das FG habe seine Pflicht zur Sachverhaltsermittlung nach § 76 der Finanzgerichtsordnung (FGO) verletzt, da es diese Belastungen weder ermittelt noch berücksichtigt habe. Das FG habe zu Unrecht den Ansatz der Vorsorgeaufwendungen im Streitjahr untersucht. Wenn sich das FG schon über das Zu- und Abflussprinzip hinwegsetze, dann müsse es das konsequent tun. Die Nichtberücksichtigung der wegfallenden Sonderausgaben im Veranlagungszeitraum 2000 führe zu einer Ungleichbehandlung der Steuerpflichtigen und verstoße gegen Art. 3 des Grundgesetzes (GG); das FG müsse diese Belastungen bei der Urteilsfindung berücksichtigen.

3. Die Klärung der Frage, ob Sonderausgaben, die sich wegen eines Verlustes nicht auswirken würden, im vorangegangenen Veranlagungszeitraum zu berücksichtigen seien, würde der Rechtsfortbildung (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO) dienen.

Die Kläger beantragen, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.

Das FA beantragt, die Beschwerde zu verwerfen.

1. Die Voraussetzungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO seien nicht erfüllt; die Kläger hätten die Ursächlichkeit des Mangels für die Sachentscheidung nicht dargelegt. Im Übrigen habe das FG nicht vor der mündlichen Verhandlung auf das Urteil hinweisen müssen. Auch hinsichtlich der entfallenden Auswirkung der im Veranlagungszeitraum 2000 geleisteten Vorsorgeaufwendungen hätten die Kläger nicht deutlich gemacht, welche steuerlichen Folgen sich aus ihrem Vortrag ergäben.

2. Die Nichtzulassungsbeschwerde sei auch in der Sache nicht begründet. Das FG habe keine Veranlassung gehabt, im Rahmen eines Klageverfahrens wegen Einkommensteuer 1999 über Vorsorgeaufwendungen des Jahres 2000 zu entscheiden. Die Kläger hätten nicht substantiiert dargelegt, inwieweit die aufgeworfene Rechtsfrage im allgemeinen Interesse klärungsbedürftig sei.

 

Entscheidungsgründe

II. Die Beschwerde ist unzulässig.

1. Gemäß § 96 Abs. 2 FGO darf das Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten; in § 93 Abs. 1 FGO ist klargestellt, dass der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs auch die Erörterung der voraussichtlich entscheidungserheblichen Rechtsfragen umfasst (Gräber/von Groll, Finanzgerichtsordnung, 5. Aufl., 2002, § 96 Rz. 32). Die Beteiligten sollen auch in rechtlicher Hinsicht vor Überraschungen bewahrt werden. Die Gewährung rechtlichen Gehörs besteht in der Verschaffung einer ausreichenden Gelegenheit zur Äußerung; inwieweit diese Gelegenheit wahrgenommen wird, ist Sache der Beteiligten.

Der Einwand der Kläger, der Vorsitzende habe in der mündlichen Verhandlung auf ein nicht amtlich veröffentlichtes BFH-Urteil, nämlich auf das Urteil in BFH/NV 2005, 321 hingewiesen, enthält schon deshalb keine schlüssige Verfahrensrüge, weil mit einem derartigen Hinweis im Rahmen der gemäß § 93 Abs. 1 FGO gebotenen Erörterung der Streitsache gerade dem Recht auf Gehör Rechnung getragen und eine unzulässige Überraschungsentscheidung vermieden wird (BFH-Beschluss vom 18. März 1997 X B 115/96, BFH/NV 1997, 570). Hätte sich der die Kläger vertretende Prozessvertreter in der mündlichen Verhandlung trotz auszugsweiser Verlesung des BFH-Urteils nicht ausreichend informiert gefühlt oder hätte er zu der zitierten BFH-Entscheidung noch Stellung nehmen wollen, hätte er einen entsprechenden Antrag stellen können und müssen.

2. Ebenso stellt der Einwand, dass das FG es unterlassen habe, Sonderausgaben des Veranlagungszeitraums 2000 im Streitjahr zu berücksichtigen, keine schlüssige Verfahrensrüge dar. Verfahrensfehler i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO sind Verstöße gegen das Gerichtsverfahrensrecht, die das FG bei der Handhabung seines Verfahrens begeht und die zur Folge haben, dass eine ordnungsgemäße Grundlage für die Entscheidung im Urteil fehlt (BFH-Beschluss vom 30. Juni 1999 XI B 66/98, BFH/NV 1999, 1620), z.B. ein Verstoß gegen § 76 FGO (Verletzung der Sachaufklärungspflicht) oder gegen § 96 FGO (Nichtberücksichtigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens; Verstoß gegen den klaren Inhalt der Akten; Verletzung des rechtlichen Gehörs, die Vorwegnahme der Beweiswürdigung oder die vermeintliche Bindung an nicht bestehende Beweisregeln). Hingegen wird mit der Rüge der Nichtberücksichtigung bestimmter Sonderausgaben kein Verfahrensfehler geltend gemacht, sondern die Verletzung materiellen Rechts.

3. Bei den Zulassungsgründen des § 115 Abs. 2 Nr. 1 und 2 FGO sind gemäß § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO substantielle und konkrete Angaben erforderlich, weshalb eine Entscheidung des Revisionsgerichts über eine bestimmte Rechtsfrage aus Gründen der Rechtsklarheit, der Rechtsfortbildung oder der Einheitlichkeit der Rechtsprechung im allgemeinen Interesse liegt, insbesondere auch, warum auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung die Rechtsfrage nicht beantwortet werden kann. Allein der Vortrag, dass die Klärung einer bestimmten Rechtsfrage der Rechtsfortbildung dienen könnte, reicht für eine schlüssige Darlegung eines Zulassungsgrundes nicht aus.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1412443

BFH/NV 2005, 1838

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