Entscheidungsstichwort (Thema)

Geschäftsführerhaftung

 

Leitsatz (NV)

1. Bei zur vollständigen Begleichung der Löhne unzureichenden Zahlungsmitteln ist ein GmbH-Geschäftsführer verpflichtet, die Löhne in einem Umfang zu kürzen, der eine gleichmäßige Befriedigung der Arbeitnehmer hinsichtlich des Lohnes und des FA hinsichtlich der auf die gekürzten Löhne entfallenden Lohnsteuern sicherstellt.

2. Ein GmbH-Geschäftsführer kann sich nicht damit entschuldigen, er sei von der ordnungsgemäßen Führung der Geschäfte ferngehalten worden und tatsächlich habe ein anderer die Geschäfte geführt; ist er nicht in der Lage, sich innerhalb der Gesellschaft durchzusetzen und seiner Rechtsstellung gemäß zu handeln, so muß er als Geschäftsführer zurücktreten.

3. Der Haftungsanspruch des § 69 AO 1977 knüpft allein an die Verwirklichung der dort genannten Tatbestandsmerkmale an, daher kann ein etwaiges Mitverschulden des FA -- das als negatives Tatbestandsmerkmal nicht benannt ist -- eine Haftung nicht ausschließen.

 

Normenkette

FGO § 142 Abs. 1, § 69 Abs. 2; ZPO § 114; AO 1977 § 69

 

Verfahrensgang

Thüringer FG

 

Tatbestand

Der Antragsteller und Beschwerdeführer (Antragsteller) war alleiniger Geschäftsführer einer GmbH im Aufbau, die von der Treuhandanstalt an den Unternehmer V verkauft wurde. Im Juli 1991 wurde die F GmbH (GmbH) gegründet und als jeweils alleinvertretungsberechtigte Geschäftsführer der Antragsteller und der Alleingesellschafter V bestellt. Eine Kompetenz- oder Aufgabenverteilung zwischen dem Antragsteller und V wurde nicht schriftlich festgelegt. Über das Vermögen der GmbH wurde am 12. September 1992 die Gesamtvollstreckung angeordnet. Nachdem ein Haftungsbescheid gegen den Mitgeschäftsführer V erfolglos geblieben war, nahm der Antragsgegner und Beschwerdegegner (das Finanzamt -- FA --) den Antragsteller mit Haftungsbescheid wegen für die Monate November 1991 bis September 1992 angemeldeter, aber nicht abgeführter Lohnsteuer, Kirchensteuer und Solidaritätszuschläge und wegen Säumniszuschlägen in Höhe von 250 000 DM nach den §§ 69 und 34 der Abgabenordnung (AO 1977) als Haftungsschuldner in Anspruch. Nach erfolglosem Einspruch erhob der Antragsteller gegen den Haftungsbescheid Anfechtungsklage und beantragte, die Vollziehung des Haftungsbescheides auszusetzen. Über die Klage und den Aussetzungsantrag hat das Finanzgericht (FG) noch nicht entschieden.

Zur Begründung seiner Klage trägt der Antragsteller vor, er habe nur formal die Stellung eines Geschäftsführers gehabt und sei den Weisungen des Alleingesellschafters und Mitgeschäftsführers V unterworfen gewesen. Dieser habe die Produkte der GmbH an seine eigenen Firmen veräußert, so daß die GmbH lediglich Forderungen gegen die weiteren Firmen des V erworben habe. In Erfüllung dieser Forderungen habe V ihm lediglich die zur Auszahlung der Nettolöhne erforderlichen Geldmittel zur Verfügung gestellt. Darüber hinaus habe er keine Kenntnis von der Verpflichtung zur anteilmäßigen Befriedigung von FA und Arbeitnehmern bei zur vollständigen Befriedigung von sämtlichen Verbindlichkeiten nicht ausreichenden Zahlungsmitteln gehabt.

Seine Inanspruchnahme sei auch ermessensfehlerhaft, weil die GmbH keine flüssigen Zahlungsmittel gehabt habe. Das FA müsse beweisen, welche Mittel zur Entrichtung der Steuern für den jeweiligen Anmeldungszeitraum zur Verfügung gestanden hätten. Die Ermessensentscheidung sei auch deshalb fehlerhaft, weil das FA ein hohes Maß an Mitverschulden treffe. Das FA habe gegen die Nichtabführung der Abgaben nichts unternommen und sei erst dann aktiv geworden, als die GmbH überschuldet und zahlungsunfähig gewesen sei.

Zur Begründung des Antrags auf Aussetzung der Vollziehung nimmt der Antragsteller im wesentlichen auf die Klagebegründung Bezug und trägt darüber hinaus vor, daß die Haftungssumme seine finanziellen Möglichkeiten bei weitem übersteigen würde und eine Vollziehung des Haftungsbescheides für ihn eine unbillige Härte zur Folge hätte, die durch ein überwiegendes öffentliches Interesse nicht geboten sei.

Der vom Antragsteller zur Durchführung des Klage- und Aussetzungsverfahrens gestellte Antrag auf Bewilligung von Prozeßkostenhilfe (PKH) ist vom FG mangels hinreichender Erfolgsaussichten abgelehnt worden. Nach der im PKH-Verfahren gebotenen summarischen Prüfung hielt das FG den Haftungsbescheid für rechtmäßig, da der Antragsteller die ihm als Geschäftsführer obliegende Pflicht zur Abführung der streitbefangenen Steuern zumindest grob fahrlässig und damit schuldhaft i. S. von § 69 AO 1977 verletzt habe. Die Weisungsgebundenheit und die fehlende wirtschaftliche und finanzielle Dispositionsbefugnis könnten den Antragsteller nicht entlasten.

Der Antragsteller könne sich auch nicht darauf berufen, er habe nicht gewußt, daß er nicht auf zukünftige Finanzierungsmöglichkeiten hätte vertrauen und die ihm zur Ver fügung stehenden Nettolohnsummen nur anteilmäßig zur gleichmäßigen Befriedigung des FA und der Arbeitnehmer hätte auszahlen dürfen. Als kaufmännischer Leiter eines Gewerbebetriebes hätte er sich über die ihm obliegenden gesetzlichen Pflichten informieren und diese ordnungsgemäß beachten müssen. Ein Mitverschulden des FA liege ebenfalls nicht vor, da nach der Rechtsprechung des BFH niemand einen Anspruch darauf habe, daß das FA von seinen Befugnissen zur Beitreibung der ausstehenden Lohnsteuern Gebrauch mache.

Schließlich hielt das FG unter Berufung auf das Urteil des BFH vom 26. Juli 1988 VII R 84/87 (BFH/NV 1988, 685) eine Beschränkung der Haftung auch in bezug auf den letzten Lohnzahlungszeitraum (Juni 1992) nicht für gerechtfertigt, weil V in Erfüllung von Forderungen, die die GmbH gegen seine eigenen Firmen erworben hatte, der GmbH immer wieder Gelder zur Bezahlung von Lieferantenrechnungen und Nettolöhnen zur Verfügung gestellt habe. Es sei nicht auszuschließen, daß auch nach der Auszahlung der letzten Lohnzahlungen Verbindlichkeiten der GmbH auf diese Weise erfüllt worden seien. Für eine Einstellung jeglicher Zahlungen trage der Antragsteller die Beweislast; entsprechende Nachweise habe er jedoch nicht erbringen können. Auch habe das FA das ihm zustehende Auswahlermessen sachgerecht ausgeübt, da Vollstreckungsversuche gegen die GmbH erfolglos geblieben seien und auch der weitere Geschäftsführer V erfolglos in Anspruch genommen worden sei.

 

Entscheidungsgründe

Die Beschwerde gegen die Versagung der PKH ist nicht begründet. Die Klage und der Antrag auf Aussetzung der Vollziehung bieten keine hinreichende Aussicht auf Erfolg (§ 142 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --, § 114 der Zivilprozeßordnung). Das FG hat deshalb den Antrag auf Gewährung von PKH zu Recht abgelehnt.

Eine beabsichtigte Rechtsverfolgung verspricht hinreichende Aussicht auf Erfolg, wenn das Gericht den Rechtsstandpunkt des Antragstellers aufgrund dessen Sachdarstellung und der vorhandenen Unterlagen zumindest für vertretbar hält, in tatsächlicher Hinsicht von der Möglichkeit der Beweisführung überzeugt ist und deshalb bei summarischer Prüfung für einen Eintritt des angestrebten Erfolges eine gewisse Wahrscheinlichkeit besteht (vgl. Beschlüsse des BFH vom 16. Dezember 1986 VIII B 115/86, BFHE 148, 215, BStBl II 1987, 217, und vom 2. Juni 1987 VII B 20/87, BFH/NV 1988, 261). Nach Auffassung des Senats sind diese Voraussetzungen im Streitfall nicht gegeben.

1. Bei der im PKH-Verfahren gebotenen summarischen Prüfung ist es nicht zu beanstanden, daß das FG davon ausgegangen ist, daß der Antragsteller den Haftungstatbestand des § 69 AO 1977 zumindest grob fahrlässig erfüllt hat.

a) Als alleinvertretungsberechtigtem Geschäftsführer oblag dem Antragsteller nach § 35 Abs. 1 des Gesetzes betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung i. V. m. § 41 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 des Einkommensteuergesetzes die öffentlich-rechtliche Pflicht, die Lohnsteuer, einschließlich der Kirchensteuer und des Solidaritätszuschlags, bis zum zehnten Tag nach Ablauf eines jeden Lohnsteueranmeldungszeitraumes (Kalendermonat) an das FA abzuführen. In mehreren Entscheidungen hat der Senat erkannt, daß der Geschäftsführer einer GmbH bei zur vollständigen Begleichung der Löhne unzureichenden Zahlungsmitteln verpflichtet ist, die Löhne in einem Umfang zu kürzen, der eine gleichmäßige Befriedigung der Arbeitnehmer hinsichtlich des Lohnes und des FA hinsichtlich der auf die gekürzten Löhne entfallenden Lohnsteuern sicherstellt (vgl. Urteile des Senats vom 20. April 1982 VII R 96/79, BFHE 135, 416, BStBl II 1982, 521; in BFH/NV 1988, 685, und vom 6. März 1990 VII R 63/87, BFH/NV 1990, 756). Dieser Verpflichtung ist der Antragsteller nicht nachgekommen; vielmehr hat er während des Haftungszeitraumes die ihm vom Mitgeschäftsführer V zur Verfügung gestellten Nettolöhne ungekürzt an die Arbeitnehmer ausbezahlt und dadurch bewirkt, daß die Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis nicht erfüllt worden sind.

b) Bei summarischer Prüfung ist davon auszugehen, daß der Antragsteller die ihm obliegenden Geschäftsführerpflichten zumindest grob fahrlässig verletzt hat. Grob fahrlässig i. S. des § 69 AO 1977 handelt, wer die Sorgfalt, zu der er nach den Umständen und seinen persönlichen Kenntnissen und Fähigkeiten verpflichtet und imstande ist, in ungewöhnlich hohem Maße außer acht läßt (vgl. Urteil des BFH vom 12. Mai 1992 VII R 52/91, BFH/NV 1992, 785, m. w. N.). Soweit der Antragsteller in Kenntnis der Zahlungsschwierigkeiten eine gebotene Kürzung der Löhne und eine anteilige Befriedigung der Arbeitnehmer und des FA unterließ, erscheint es gerechtfertigt, ihm zumindest grobe Fahrlässigkeit vorzuwerfen. Der Antragsteller kann sich nicht darauf berufen, daß er von dieser Verpflichtung keine Kenntnis hatte. Es gehört zu den Pflichten des Geschäftsführers einer GmbH, sich mit den handelsrechtlichen und steuerlichen Anforderungen, die an die Ausübung dieser Tätigkeit gestellt werden, vertraut zu machen und, falls dies in Krisensituationen erforderlich erscheint, fachliche Beratung in Anspruch zu nehmen. Die ordnungsgemäße Beachtung der gesetzlichen Vorschriften -- auch steuerlicher Art -- muß von jedem kaufmännischen Leiter eines Gewerbebetriebes verlangt werden (vgl. Urteil des BFH vom 12. Juli 1988 VII R 108--109/87, BFH/NV 1988, 764, und Beschluß vom 7. März 1995 VII B 172/94, BFH/NV 1995, 941, m. w. N.).

c) Zu seiner Entschuldigung kann sich der Antragsteller nicht darauf berufen, daß er faktisch in einem arbeitnehmerähnlichen Abhängigkeitsverhältnis zum geschäftsführenden Gesellschafter V gestanden habe und daß seine eingeschränkten Bedürfnisse im Innenverhältnis eine eigenverantwortliche Disposition über die zur Begleichung der dem FA geschuldeten Abgaben erforderlichen Geldmittel nicht zuließen. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats ergibt sich die Verantwortlichkeit des Geschäftsführers für die Erfüllung der steuerlichen Pflichten der GmbH allein aus seiner nominellen Bestellung zum Geschäftsführer ohne Rücksicht darauf, ob sie auch tatsächlich ausgeübt werden kann (vgl. Urteile des Senats in BFH/NV 1987, 210; vom 11. November 1986 VII R 201/83, BFH/NV 1987, 212; vom 2. Juli 1987 VII R 104/84, BFH/NV 1988, 6, und Beschlüsse des Senats vom 5. März 1985 VII B 69/84, BFH/NV 1987, 422; vom 19. November 1985 VII S 13/85, BFH/NV 1986, 266; vom 25. April 1989 VII S 15/89, BFH/NV 1989, 757, und in BFH/NV 1995, 941).

Der GmbH-Geschäftsführer kann sich nicht damit entschuldigen, daß er von der ordnungsgemäßen Führung der Geschäfte ferngehalten wird und die Geschäfte tatsächlich von einem anderen geführt worden sind. Auch eine lediglich nominell zum Geschäftsführer bestellte Person kann sich nicht damit entlasten, sie habe keine Möglichkeit gehabt, ihre rechtliche Stellung als Geschäftsführer innerhalb der Gesellschaft zu verwirklichen und die steuerlichen Verpflichtungen zu erfüllen. Ist der Geschäftsführer nicht in der Lage, sich innerhalb der Gesellschaft durchzusetzen und seiner Rechtsstellung gemäß zu handeln, so muß er als Geschäftsführer zurücktreten und darf nicht im Rechtsverkehr den Eindruck erwecken, als sorge er für die ordnungsgemäße Abwicklung der Geschäfte (vgl. Urteile des Senats in BFH/NV 1987, 210, und vom 23. März 1993 VII R 38/92, BFH/NV 1994, 71, m. w. N.).

Der Antragsteller kann sich auch auf eine interne Beschränkung seiner Dispositionsbefugnisse nicht berufen. Zur Entrichtung der dem FA geschuldeten Abgaben hätte er gegenüber V auf die Bereitstellung entsprechender Geldmittel bestehen und sich die Verfügungsgewalt über diese verschaffen müssen. In Kenntnis der durch die Abwicklung der Geschäfte und des Zahlungsverkehrs zwischen der GmbH und den belieferten Firmen des Mitgeschäftsführers V verursachten Zahlungsschwierigkeiten hätte der Antragsteller, nachdem er aufgrund der Auseinandersetzungen mit V die sichere Erkenntnis erlangt hatte, daß er nicht in der Lage sein würde, die ihm obliegenden Pflichten ordnungsgemäß zu erfüllen, als Geschäftsführer zurücktreten müssen. Da eine haftungsbeschränkende Verteilung der Geschäfte weder im Gesellschaftsvertrag noch im Handelsregister oder an anderer Stelle schriftlich festgelegt worden ist, kann eine Haftungsbegrenzung auch aus diesem Grunde nicht in Betracht kommen (vgl. Urteile des BFH vom 26. April 1984 V R 128/79, BFHE 141, 443, BStBl II 1984, 776, und vom 17. Mai 1988 VII R 90/85, BFH/NV 1989, 4).

d) Zu Recht hat das FG die Voraussetzungen für eine Haftungsbeschränkung auch für den letzten Lohnzahlungszeitraum nicht für gegeben erachtet. Die Annahme einer Haftungsbeschränkung setzt voraus, daß der von dem haftenden Geschäftsführer vertretenen GmbH ab dem Zeitpunkt der letzten Lohnzahlung nur Mittel in Höhe der ausbezahlten Nettolöhne zur Verfügung standen. Für diesen außergewöhnlichen Sachverhalt trägt der Haftungsschuldner die objektive Beweislast (vgl. Urteile des Senats vom 7. Juli 1983 VII R 43/80, BFHE 138, 527, BStBl II 1983, 760, und in BFH/NV 1988, 685). Den Nachweis, daß der Mitgeschäftsführer V seine Zahlungen an die GmbH nach der Auszahlung der letzten Nettolöhne vollständig eingestellt hat und daß der GmbH ab diesem Zeitpunkt keine weiteren Geldmittel zur Verfügung standen, hat der Antragsteller jedoch nicht führen können und hierfür auch im Beschwerdeverfahren keine Beweismittel angeboten.

e) Der Senat vermag bei summarischer Prüfung auch nicht zu erkennen, daß die gegen die Ausübung des Ermessens vorgebrachten Einwände mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu dem Ergebnis führen könnten, daß die Inanspruchnahme des Antragstellers durch das FA ermessensfehlerhaft sei. Bei der Inanspruchnahme eines nach den §§ 34, 69 AO 1977 Haftenden handelt es sich um eine Ermessensentscheidung (§ 191 Abs. 1 AO 1977), die in den Grenzen von § 102 FGO darauf zu überprüfen ist, ob der Haftungsbescheid deshalb rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist (vgl. Urteile des BFH vom 13. April 1978 V R 109/75, BFHE 125, 126, BStBl II 1978, 508, und vom 3. Februar 1981 VII R 86/78, BFHE 133, 1, BStBl II 1981, 493). Eine fehlerhafte Ausübung des Auswahlermessens vermag der Senat nicht zu erkennen. Das FA hat die Inanspruchnahme des Antragstellers als Haftenden insbesondere darauf gestützt, daß beide Geschäftsführer ihre Pflichten zumindest grob fahrlässig verletzt haben und sie das gleiche Maß an Verschulden trifft. Unter diesen Gesichtspunkten ist es nicht zu beanstanden, daß nach vorrangiger, jedoch erfolgloser Inanspruchnahme des Mitgeschäftsführers V auch der Antragsteller als Haftender in Anspruch genommen worden ist.

Das FA hat bei summarischer Prüfung auch das ihm zustehende Entschließungsermessen sachgerecht betätigt. Entgegen der Auffassung des Antragstellers schließt ins besondere der Umstand, daß das FA die Nichtabführung der geschuldeten Abgaben über einen Zeitraum von zehn Monaten hingenommen hat, ohne Vollstreckungsmaßnahmen einzuleiten, die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners grundsätzlich nicht aus. Wie der Senat mehrfach entschieden hat, kann ein etwaiges Mitverschulden des FA eine Haftung nach § 69 AO 1977 nicht ausschließen, weil der Haftungsanspruch des § 69 AO 1977 allein an die Verwirklichung der dort genannten Tatbestandsmerkmale anknüpft, zu denen nicht gehört, daß die Haftung im Falle des Mitverschuldens der Verwaltung ganz oder teilweise entfällt (vgl. Beschluß des Senats vom 21. Januar 1986 VII S 30/85, BFH/NV 1986, 518). Ein etwaiges Mitverschulden des FA kann allenfalls im Rahmen der nach § 191 Abs. 1 AO 1977 zu treffenden Ermessensentscheidung Berücksichtigung finden. Aber auch in bezug auf die Betätigung des Entschließungsermessens greift der Einwand des Mitverschuldens nicht durch. Die besonderen Aufsichts- und Kontrollrechte des FA beim Lohnsteuerabzug dienen dazu, die ordnungsgemäße Durchführung des Steuerabzugs vom Arbeitslohn sicherzustellen. Dem einzelnen Arbeitgeber gewähren diese Befugnisse jedoch keinen Anspruch darauf, daß die Behörde von ihnen auch tatsächlich Gebrauch macht und zum frühestmöglichen Zeitpunkt Vollstreckungsmaßnahmen einleitet (vgl. Urteile des BFH vom 11. August 1978 VI R 169/75, BFHE 125, 508, BStBl II 1978, 683, und vom 12. März 1985 VII R 22/84, BFH/NV 1987, 227). Deshalb kann sich der Antragsteller nicht darauf berufen, das FA trage ein Mitverschulden und seine Inanspruchnahme sei daher nicht gerechtfertigt.

Die Ermessensentscheidung ist entgegen der Ansicht des Antragstellers auch nicht deshalb fehlerhaft, weil das FA die finanziellen Verhältnisse des Antragstellers unberücksichtigt gelassen hat. Im Rahmen der Betätigung des Auswahl- und Entschließungsermessens besteht kein Grund, Gesichtspunkte zu berücksichtigen, die sich aus der Größenordnung der Haftungsschuld im Vergleich zu den finanziellen Möglichkeiten des Haftungsschuldners ergeben. Aufgrund des Schadensersatzcharakters des Haftungsanspruchs ist es nicht gerechtfertigt, Billigkeitserwägungen bereits in die Entscheidung über den Erlaß eines Haftungsbescheides und in die Feststellung der Anspruchsvoraussetzungen einfließen zu lassen (vgl. Beschluß in BFH/NV 1995, 941).

2. Der Antrag auf Aussetzung der Vollziehung bietet ebenfalls keine hinreichende Aussicht auf Erfolg. Das FG hat die Gewährung von PKH auch für dieses Verfahren zu Recht abgelehnt.

Eine Aussetzung der Vollziehung kommt nach dem Wortlaut des § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO nur dann in Betracht, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts bestehen oder wenn die Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige, nicht durch überwiegend öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte. Trotz der alternativen Fassung des Gesetzes können die Erfolgsaussichten des Rechtsmittels bei der Entscheidung über einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung nicht unberücksichtigt bleiben. Eine Aussetzung der Vollziehung wegen unbilliger Härte kann in Hinblick auf die Systematik des § 69 FGO nur dann gewährt werden, wenn Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes bestehen. Eine Aussetzung der Vollziehung muß jedoch ausscheiden, wenn Zweifel an der Rechtmäßigkeit fast ausgeschlossen sind (vgl. Beschlüsse des BFH vom 19. April 1968 IV B 3/66, BFHE 92, 314, BStBl II 1968, 538, und vom 9. Januar 1990 VII B 127/89, BFH/NV 1990, 473). Dies gilt selbst dann, wenn die Vollziehung eine unbillige Härte zur Folge hätte (vgl. Beschluß des BFH vom 21. Dezember 1967 V B 26/67, BFHE 90, 318, BStBl II 1968, 84). In diesem Fall besteht für den Steuerpflichtigen die Möglichkeit, Erlaß (§ 227 Abs. 1 AO 1977), Stundung (§ 222 Satz 1 AO 1977) oder Einstellung der Zwangsvollstreckung (§ 258 AO 1977) zu beantragen (vgl. Beschluß des BFH vom 31. August 1987 V B 57/86, BFH/NV 1988, 174).

Da im Streitfall Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Haftungsbescheides fast ausgeschlossen sind, kann auch der Antrag auf Aussetzung der Vollziehung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bieten.

 

Fundstellen

Haufe-Index 421217

BFH/NV 1996, 589

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