Entscheidungsstichwort (Thema)

Wirksamer Einspruch? ‐ Verwirkung der Untätigkeitsklage?

 

Leitsatz (NV)

  1. Stellt ein Steuerpflichtiger innerhalb noch offener Einspruchsfrist einen Änderungsantrag, der nicht ausdrücklich als "Einspruch" bezeichnet ist, kann das FA diesen regelmäßig nur dann als schlichten Änderungsantrag nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO 1977 behandeln, wenn der Antragsteller eine genau bestimmte Änderung des Steuerbescheides beantragt und das FA dem Begehren entsprechen will. Andernfalls ist ein Einspruch anzunehmen.
  2. Die Geltendmachung verfahrensrechtlicher Befugnisse (hier: Erhebung der Untätigkeitsklage) kann nach Treu und Glauben verwirkt werden. Durch bloße Untätigkeit ‐ auch über längere Zeiträume ‐ wird jedoch regelmäßig noch keine Verwirkung herbeigeführt. Hinzu kommen muss ein Vertrauenstatbestand und eine Vertrauensfolge.
 

Normenkette

AO 1977 § 164 Abs. 2 S. 2, § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 Buchst. a; FGO §§ 44, 46 Abs. 1; BGB § 133

 

Tatbestand

I. Die Klägerin und Beschwerdegegnerin (Klägerin), eine GmbH, beantragte am 16. April 1997 beim Beklagten und Beschwerdeführer (Finanzamt ―FA―) die Änderung eines unter dem Vorbehalt der Nachprüfung ergangenen Bescheides über die gesonderte und einheitliche Feststellung des gemeinen Werts ihrer Anteile auf den 31. Dezember 1994 vom 29. März 1996. Mit Schreiben vom 7. Oktober 1997 lehnte das FA den Änderungsantrag ab. Das Schreiben enthält keine Rechtsmittelbelehrung.

Mit Schreiben vom 24. November 1997, beim FA eingegangen am 25. November 1997, wandte sich die Prozessbevollmächtigte der Klägerin erneut an das FA und bat unter Bezugnahme "auf Ihr Schreiben vom 7. Oktober 1997" …, "ihre Entscheidung … nochmals zu überdenken". Neben weiteren Rechtsausführungen schließt das Schreiben mit der Bitte um "antragsgemäße Bescheidung". In einem weiteren per Telefax am 26. November 1997 übermittelten Schreiben trug die Prozessbevollmächtigte der Klägerin weitere "entscheidungserhebliche Aspekte" vor und bat nochmals, dem Antrag stattzugeben.

In einem unmittelbar an die Klägerin gerichteten Schreiben vom 27. September 2000 stellte sich das FA auf den Standpunkt, die beiden Schreiben der Prozessbevollmächtigten der Klägerin vom 24. und 26. November 1997 könnten "nach Bestandskraft des Ablehnungsbescheides leider keine Berücksichtigung mehr finden". Ein Rechtsbehelf sei seitens der Klägerin gegen den Ablehnungsbescheid nicht eingelegt worden.

Am 26. September 2001 erhob die Klägerin Klage mit dem Antrag, unter Aufhebung des Feststellungsbescheides und der "Einspruchsentscheidung vom 27. September 2000" den gemeinen Wert der Anteile niedriger festzustellen. Hierzu führte sie aus, es könne offen bleiben, ob es sich bei dem Schreiben des FA vom 27. September 2000 um eine Einspruchsentscheidung handele. Denn die Klage sei auch nach § 46 der Finanzgerichtsordnung (FGO) als Untätigkeitsklage zulässig.

Das FA hat beantragt, die Klage als unzulässig abzuweisen. Der Ablehnungsbescheid vom 7. Oktober 1997 sei bestandskräftig, die Schreiben der Prozessbevollmächtigten der Klägerin vom 24. und 26. November 1997 seien nicht als Einspruch anzusehen.

Das Finanzgericht (FG) hat am 22. Oktober 2002 gemäß § 46 Abs. 1 FGO das Klageverfahren bis zum Ablauf des 31. Januar 2003 ausgesetzt und dem FA Gelegenheit gegeben, innerhalb der Aussetzungsfrist die noch ausstehende Einspruchsentscheidung zu erlassen. Das Schreiben vom 24. November 1997 sei ―auch wenn es nicht ausdrücklich als solches bezeichnet sei― als Einspruchsschreiben zu werten. Denn hierin komme der Wille zum Ausdruck, eine erneute Überprüfung des Ablehnungsbescheides durch die Behörde herbeizuführen.

Hiergegen richtet sich die Beschwerde des FA. Es macht geltend, die Untätigkeitsklage sei unzulässig, da die Klägerin keinen Rechtsbehelf gegen den Ablehnungsbescheid vom 7. Oktober 1997 eingelegt habe. Die Klage sei ferner unzulässig, da ein hinreichender, die fehlende Sachentscheidung rechtfertigender Grund vorgelegen habe. Nach dem Erhalt des Schreibens vom 27. September 2000 habe der Klägerin klar sein müssen, dass das FA von keinem offenen Rechtsmittelverfahren mehr ausgegangen und eine weitere Entscheidung vom FA nicht zu erwarten sei. Die Klägerin habe es versäumt, das FA auf ihre abweichende Rechtsauffassung hinzuweisen, und hätte ihm Gelegenheit geben müssen, über ihr Vorbringen in angemessener Frist zu entscheiden. Die Klägerin habe ferner ihr Recht auf Erhebung der Untätigkeitsklage verwirkt. Sie habe den Zustand, dass die Schreiben vom 24. und 26. November 1997 unbeantwortet blieben, über drei Jahre hingenommen und auch auf das an sie gerichtete Schreiben vom 27. September 2000 erst ein Jahr später mit der Untätigkeitsklage reagiert.

Das FA beantragt, den Aussetzungsbeschluss aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

II Die Beschwerde ist unbegründet, sie war deshalb zurückzuweisen. Das FG hat das Verfahren zu Recht gemäß § 46 Abs. 1 Satz 3 FGO zeitlich befristet ausgesetzt.

1. Ist über einen außergerichtlichen Rechtsbehelf ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist sachlich nicht entschieden worden, so ist die Klage abweichend von § 44 FGO ohne vorherigen Abschluss des Vorverfahrens zulässig (§ 46 Abs. 1 Satz 1 FGO). Das Gericht kann das Verfahren bis zum Ablauf einer von ihm bestimmten Frist, die verlängert werden kann, aussetzen (§ 46 Abs. 1 Satz 3 FGO). Die Entscheidung über die Aussetzung des Verfahrens ist in das Ermessen des Gerichts gestellt ("…kann…"). Damit wird der besonderen prozessualen Lage Rechnung getragen, in der sich das Verfahren durch den unerledigten Rechtsbehelf und das (neu und daneben) eingeleitete gerichtliche Rechtsbehelfsverfahren befindet.

2. Das FG hat von dem ihm eingeräumten Ermessen keinen fehlerhaften Gebrauch gemacht. Insbesondere hat es rechtsfehlerfrei angenommen, dass die Klägerin gegen den Ablehnungsbescheid vom 7. Oktober 1997 form- und fristgerecht Einspruch eingelegt hat, über den das FA noch entscheiden muss.

Entgegen der Auffassung des FA handelt es sich bei dem Schreiben der Prozessbevollmächtigten der Klägerin vom 24. November 1997 um ein Einspruchsschreiben.

In entsprechender Anwendung des § 133 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) sind auch außerprozessuale Verfahrenserklärungen auszulegen. Dies gilt grundsätzlich auch für Erklärungen rechtskundiger Personen. Entscheidend ist, wie das FA als Erklärungsempfänger den objektiven Erklärungswert des Schreibens verstehen musste (vgl. auch Senatsurteil vom 28. Januar 1988 IV R 12/86, BFHE 152, 476, BStBl II 1988, 530; Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 55. Aufl. 1996, § 133 Rdnr. 3 f., 9 ff.). Stellt ―wie im Streitfall― ein Steuerpflichtiger innerhalb noch offener Einspruchsfrist einen Änderungsantrag, der nicht ausdrücklich als "Einspruch" bezeichnet ist, kann das FA diesen regelmäßig nur dann als Änderungsantrag nach § 164 Abs. 2 Satz 2 oder nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a der Abgabenordnung (AO 1977) behandeln, wenn der Antragsteller eine genau bestimmte Änderung des Steuerbescheides beantragt und das FA dem Begehren entsprechen will. Andernfalls ist ein Einspruch anzunehmen, da der Einspruch die Rechte des Steuerpflichtigen umfassender und wirkungsvoller wahrt als der bloße Änderungsantrag (zu § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO 1977 vgl. Rüsken in Klein, Abgabenordnung, 7. Aufl., § 172 Rdnr. 34; von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, Stand August 2002, § 172 AO 1977 Rz. 135; vgl. auch Anwendungserlass zur Abgabenordnung ―AEAO― vom 15. Juli 1998 i.d.F. der Änderung vom 1. Juli 2002, BStBl I 2002, 639, 642 zu § 172 Abschn. 2.)

Nach seinem objektiven Erklärungsinhalt ist deshalb das Schreiben der Prozessbevollmächtigten der Klägerin vom 24. November 1997 als Einspruch gegen den Ablehnungsbescheid vom 7. Oktober 1997 zu werten und nicht als erneuter Antrag auf Änderung des Feststellungsbescheides vom 29. März 1996 bzw. als schlichter Antrag auf Änderung des Ablehnungsbescheides vom 7. Oktober 1997. Die gegenteilige Ansicht des FA lässt sich nicht damit begründen, dass eine klare und eindeutige Bezeichnung als "Einspruch" fehlt, denn des Gebrauchs dieses Wortes bedarf es nicht (Urteil des Bundesfinanzhofs ―BFH― vom 12. April 1967 VI 389/65, BFHE 88, 314, BStBl III 1967, 382). Der wirkliche Wille der Unterzeichner zielte auf die Nachprüfung der Ablehnung des Änderungsbegehrens. Dies ergibt sich aus der ausdrücklichen Bezugnahme auf den Ablehnungsbescheid vom 7. Oktober 1997 und der Bitte, die (ablehnende) Entscheidung "nochmals zu überdenken" und wie beantragt zu bescheiden.

3. Verfehlt ist auch die Auffassung des FA, es liege deshalb ein hinreichender, die fehlende Einspruchsentscheidung rechtfertigender Grund vor, weil die Klägerin nach dem Inhalt des an sie gerichteten Schreibens vom 27. September 2000 "ohne eigenes Zutun keine weitere Entscheidung" des FA habe erwarten können. Teilt das FA ―wie im Streitfall― dem Steuerpflichtigen mit, eine Einspruchsentscheidung werde wegen Eintritts der Bestandskraft des Bescheides nicht ergehen, bleibt dem Steuerpflichtigen nur das Rechtsmittel der Untätigkeitsklage, wenn er der Auffassung ist, form- und fristgerecht Einspruch eingelegt zu haben. Die der Weigerung des FA, eine Einspruchsentscheidung zu erlassen, zugrunde liegende (fehlerhafte) Rechtsauffassung und deren Mitteilung an den Steuerpflichtigen stellt in keinem Fall einen hinreichenden, die fehlende Einspruchsentscheidung rechtfertigenden Grund dar. Denn das FA könnte sich diesen Grund selbst schaffen und dadurch dem Steuerpflichtigen jede Möglichkeit nehmen, die Rechtsauffassung des FA einer finanzgerichtlichen Überprüfung zu unterziehen.

4. Entgegen der Auffassung des FA hat die Klägerin ihr Recht, Untätigkeitsklage zu erheben, auch nicht verwirkt. Die Geltendmachung verfahrensrechtlicher Befugnisse kann ―wie auch die Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis― nach Treu und Glauben verwirkt werden. Dies gilt grundsätzlich für alle Beteiligten am Steuerschuld- bzw. Prozessrechtsverhältnis, mithin auch für den Steuerpflichtigen. Durch bloße Untätigkeit ―auch über längere Zeiträume― wird jedoch regelmäßig noch keine Verwirkung herbeigeführt. Ausschlaggebend ist ein zu dem Zeitmoment hinzutretendes bestimmtes Verhalten des Anspruchsberechtigten, das geeignet ist, bei dem Verpflichteten das Vertrauen darauf zu wecken, dass das Recht nicht mehr ausgeübt werde (BFH-Urteil vom 18. März 1987 II R 226/84, BFHE 149, 141, BStBl II 1987, 416). Hinzukommen muss demnach ein Vertrauenstatbestand und eine Vertrauensfolge (vgl. Senatsurteil vom 8. Oktober 1986 II R 167/84, BFHE 147, 409, 412, BStBl II 1987, 12, m.w.N.). Etwas anderes könnte nur dann gelten, wenn der Betroffene nach Treu und Glauben zu einer bestimmten Handlung verpflichtet gewesen wäre und dies unterlassen hat (BFH-Urteil vom 24. April 1996 II R 37/93, BFH/NV 1996, 865).

Im Streitfall ist neben dem bloßen Untätigbleiben über einen Zeitraum von knapp vier Jahren kein weiteres Verhalten der Klägerin erkennbar, das geeignet gewesen wäre, beim FA das Vertrauen darauf zu wecken, dass Untätigkeitsklage nicht mehr erhoben werde. Einen (zusätzlichen) Vertrauenstatbestand hat die Klägerin nicht geschaffen, auch ist eine Vertrauensfolge beim FA nicht feststellbar.

Auch bestand für die Klägerin nach Treu und Glauben keine Verpflichtung zur Erhebung der Untätigkeitsklage. Die Klägerin hatte mit dem Schreiben ihrer Prozessbevollmächtigten vom 24. November 1997 um Rechtsüberprüfung und Änderung des Ablehnungsbescheides vom 7. Oktober 1997 gebeten und musste die Entscheidung des FA, das nunmehr am Zuge war, abwarten. Nicht die Klägerin, sondern das FA hatte eine Handlungspflicht, gegen die es fortlaufend verstieß. Das FA, welches durch seine Untätigkeit die Rechte des Steuerpflichtigen verletzt hat, ist nicht schutzwürdig und kann sich nicht seinerseits deshalb auf die Verletzung von Treu und Glauben durch den Steuerpflichtigen berufen, weil dieser sich gegen die ihm zugefügte Rechtsverletzung nicht zeitnah zur Wehr gesetzt hat.

Ob danach bei der vorliegenden Sachverhaltskonstellation überhaupt eine Verwirkung des Rechts zur Erhebung einer Untätigkeitsklage möglich ist oder ob eine Verwirkung des Klagerechts allenfalls in besonderen (krassen) Ausnahmefällen in Betracht kommt (so: Steinhauff in Hübschmann/Hepp/Spitaler, a.a.O., § 46 FGO, Rdnr. 75; von Beckerath in Beermann, Steuerliches Verfahrensrecht, § 46 FGO Rdnr. 147), kann offen bleiben, denn ein solch krasser Ausnahmefall liegt hier erkennbar nicht vor. Ein solcher könnte nach Auffassung des Senats nur angenommen werden, wenn es dem FA schlechterdings nicht mehr zugemutet werden könnte, die Sache noch einmal materiell-rechtlich zu überprüfen, z.B. wenn die für die Überprüfung erforderlichen Akten nach Ablauf der Aufbewahrungsfristen ausgesondert oder vernichtet wurden. Ist die Verbescheidung eines Einspruchs für das FA aber noch uneingeschränkt möglich, scheidet eine Verwirkung des Rechts, Untätigkeitsklage zu erheben, aus.

 

Fundstellen

Haufe-Index 952732

BFH/NV 2003, 1142

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