Entscheidungsstichwort (Thema)

Keine erfolgreiche Gehörsrüge bei Verstoß gegen prozessuale Obliegenheiten

 

Leitsatz (NV)

Einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG, § 96 Abs. 2 FGO kann nicht geltend machen, wer es selbst versäumt hat, sich vor Gericht Gehör zu verschaffen. Dem steht es gleich, wenn auf die Gewährung rechtlichen Gehörs abzielende Vorkehrungen des Gerichts deshalb nicht wirksam werden können, weil der Verfahrensbeteiligte selbst (oder sein Bevollmächtigter) seinen prozessualen Obliegenheiten nicht nachgekommen ist. Es gehört zu den Sorgfaltspflichten eines Prozessbeteiligten, dass er für das Gericht erreichbar ist.

 

Normenkette

GG Art. 103 Abs. 1; FGO § 96 Abs. 2; ZPO § 181

 

Gründe

Die allein auf die Verletzung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes ―GG―, § 96 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung ―FGO―) gestützte Beschwerde kann keinen Erfolg haben.

1. Der Senat kann im vorliegenden Verfahren offen lassen, ob der Nichtzulassungsbeschwerde schon deshalb der Erfolg zu versagen wäre, weil die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) nicht schlüssig vorgetragen hat, was sie bei ausreichender Gewährung des rechtlichen Gehörs noch (zusätzlich) vorgetragen hätte und dass bei Berücksichtigung dieses Vortrages eine andere Entscheidung des Finanzgerichts (FG) in der Sache möglich gewesen wäre.

Der Senat hat sich zwar dafür ausgesprochen, dass dahin gehende Ausführungen für eine schlüssige Gehörsrüge dann nicht zu fordern seien, wenn der Beschwerdeführer rüge, dass er ―wie hier: infolge unwirksamer Ladung― schlechthin gehindert gewesen sei, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen (vgl. Vorlagebeschluss des Senats vom 8. April 1998 VIII R 32/95, BFHE 186, 102, BStBl II 1998, 676). Jedoch vertritt ein Teil der Senate des Bundesfinanzhofs (BFH) insoweit einen gegenteiligen Standpunkt (vgl. die Nachweise im Vorlagebeschluss in BFHE 186, 102, BStBl II 1998, 676, unter B. I. der Gründe); eine klärende Entscheidung des Großen Senats des BFH zu dieser Frage steht noch aus.

2. Der Senat unterstellt zugunsten der Klägerin, dass sie zur mündlichen Verhandlung am 23. September 1999 nicht wirksam geladen wurde, weil sie ―nach eigener Bekundung― im Zeitpunkt der versuchten Zustellung der Ladung unter ihrer früheren Adresse "O-Straße in M" ―am 24. August 1999― ihre dortige Wohnung bereits endgültig aufgegeben hatte. Solchenfalls war die vom FG gemäß § 53 Abs. 1 und 2 FGO veranlasste Zustellung durch Postzustellungsurkunde unwirksam, weil sie gegen § 3 Abs. 3 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) i.V.m. den §§ 181 und 182 der Zivilprozeßordnung (ZPO) verstieß. Eine Ersatzzustellung nach diesen Vorschriften durch Niederlegung des zuzustellenden Schriftstücks bei der Postanstalt kann in wirksamer Form nur erfolgen, wenn der mit der Zustellung beauftragte Bedienstete versucht hat, dem Zustellungsempfänger das für diesen bestimmte Schriftstück in seiner Wohnung zu übergeben, dort aber weder diesen noch eine der weiteren in § 181 ZPO aufgeführten Personen angetroffen hat. Nach dem Sinn und Zweck der Zustellungsvorschriften kommt es für den Begriff der Wohnung i.S. von § 181 ZPO auf das tatsächliche Wohnen an. Maßgebend ist, ob der Zustellungsempfänger in den angegebenen Räumen tatsächlich lebt und dort auch schläft (vgl. z.B. Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts ―BVerwG― vom 4. Juli 1983 9 B 10275.83, Deutsches Verwaltungsblatt ―DVBl― 1984, 90, m.w.N.; vgl. ferner Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 4. Aufl., § 53 Rz. 19, m.w.N.).

Da die Klägerin indessen nach eigener Bekundung am Tag der versuchten Zustellung (24. August 1999) eine Wohnung in diesem Sinne in M nicht mehr innehatte, sondern nach S verzogen war, ging die Ersatzzustellung ins Leere (vgl. auch BVerwG-Beschluss in DVBl 1984, 90, betreffend langjährigen Haftaufenthalt des Zustellungsempfängers).

3. Gleichwohl kann die Verfahrensrüge keinen Erfolg haben. Einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG, § 96 Abs. 2 FGO kann nicht geltend machen, wer es selbst versäumt hat, sich vor Gericht Gehör zu verschaffen (vgl. z.B. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts ―BVerfG― vom 16. Januar 1963 1 BvR 316/60, BVerfGE 15, 256, 267). Dem steht es gleich, wenn auf Gewährung rechtlichen Gehörs abzielende Vorkehrungen des Gerichts deshalb nicht wirksam werden können, weil der Verfahrensbeteiligte selbst (oder sein Bevollmächtigter) seinen prozessualen Obliegenheiten nicht nachgekommen ist (vgl. BVerwG-Beschluss in DVBl 1984, 90, 91, linke Spalte; Gräber/Ruban, a.a.O., § 119 Rz. 13, m.w.N.; Kopp/Schenke, Verwaltungsgerichtsordnung, 11. Aufl., § 138 Rz. 19, m.w.N.).

Ein solcher Fall liegt hier vor. Es gehört zu den Sorgfaltspflichten eines Prozessbeteiligten, sicherzustellen, dass er für das Gericht erreichbar ist. Die Klägerin hatte nach eigenem Bekunden bereits Mitte April 1999 mit ihrem Umzug von M nach S begonnen, wenn auch der Umzug erst im Juli 1999 abgeschlossen war. Der klageabweisende Gerichtsbescheid des FG vom 12. Mai 1999 wurde ihr am 21. Mai 1999 noch unter ihrer alten Adresse in M durch Übergabe an sie selbst zugestellt. Gegen diesen Gerichtsbescheid beantragte sie persönlich noch unter Angabe ihrer alten Adresse in M am 12. Juni 1999 mündliche Verhandlung. Obwohl sie aufgrund dieses Antrages gewärtigen musste, dass das FG demnächst die von ihr begehrte mündliche Verhandlung anberaumen und ihre Ladung mangels Kenntnis des FG von ihrem Umzug an ihre alte Adresse richten werde, unterließ sie es ―wie es indessen bei pflichtgemäßer Wahrnehmung ihrer prozessualen Obliegenheiten jedenfalls unter diesen besonderen Umständen geboten gewesen wäre― das FG spätestens in dem Moment über ihren Wohnsitzwechsel nach S zu unterrichten, als sie ihre alte Wohnung in M endgültig verlassen hatte. Letzteres traf nach eigener Aussage der Klägerin in der Beschwerdeschrift spätestens im Zeitpunkt ihrer polizeilichen Ummeldung am 14. Juli 1999 zu.

Durch die pflichtgemäße rechtzeitige Wahrnehmung dieser prozessualen Obliegenheit hätte die Klägerin ohne weiteres sicherstellen können, dass ihr die vom FG am 20. August 1999 zur Post gegebene Ladung zur mündlichen Verhandlung am 23. September 1999 wirksam unter ihrer neuen Adresse in S hätte zugestellt werden können. Sie kann sich unter diesen Umständen auf die Verletzung des Rechts auf Gehör, welche allein auf der von ihr selbst zu vetretenden fehlerhaften Ladung zur mündlichen Verhandlung beruhte, nicht berufen.

4. Von einer weiteren Begründung wird gemäß Art. 1 Nr. 6 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs abgesehen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 426264

BFH/NV 2000, 1233

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Haufe Finance Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge