Leitsatz (amtlich)

Führen buchführungspflichtige Landwirte keine Bücher und werden ihre Gewinne mangels genauerer Unterlagen in Anlehnung an die Gewinnermittlung nach Durchschnittsätzen geschätzt, so ist das FA nach den Grundsätzen von Treu und Glauben nicht gehindert, aufgrund einer Betriebsprüfung festgestellte erhebliche Mehrgewinne als neue Tatsachen zu betrachten, die zu Berichtigungsveranlagungen berechtigen, auch wenn bekannt war, daß die ursprünglich geschätzten Gewinne nicht den tatsächlichen entsprechen (Anschluß an BFH-Urteil vom 22. September 1960 IV 249/59 U, BFHE 71, 716, BStBl III 1960, 516).

 

Normenkette

AO §§ 217, 222 Abs. 1 Nr. 1

 

Verfahrensgang

FG München

 

Gründe

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

II.

Die Revision ist nicht begründet.

1. Die Kläger waren als Gutsbesitzer in den Streitjahren buchführungspflichtige Landwirte. Obwohl sie vom FA auf ihre Buchführungspflicht, zumindest seit dem Jahre 1961, immer wieder hingewiesen wurden, haben sie keine Bücher geführt und dem FA auch sonst keine Unterlagen und Aufzeichnungen vorgelegt, die bei der Veranlagung eine genaue Gewinnermittlung ermöglicht hätten. Das FA mußte daher die Gewinne der Kläger aus Land- und Forstwirtschaft gemäß § 217 AO schätzen. Auf die Folgen der Verletzung ihrer Buchführungspflicht wurden die Kläger vom FA ausdrücklich hingewiesen. So heißt es u. a. im Schreiben des FA vom 26. September 1962: "... Ich mache darauf aufmerksam, daß Sie mit einer Schätzung des Gewinns nach § 217 AO zu rechnen haben, falls Sie ab 1. Juli 1963 Ihrer Buchführungspflicht nach § 161 Abs. 1 Ziff. 1 AO nicht nachkommen sollten. Auf die strafrechtlichen Folgen schuldhafter Steuerverkürzungen, die sich aus der Vernachlässigung der Buchführungspflicht ergeben können, weise ich vorsorglich hin." Die Art der Schätzung nach § 217 AO wurde also vom FA offengelassen und die Kläger wurden davon in Kenntnis gesetzt, daß die Vernachlässigung ihrer Buchführungspflicht zu schuldhaften Steuerverkürzungen mit strafrechtlichen Folgen führen kann. Diesen und ähnliche Hinweise ließen die Kläger unbeachtet.

Anhand der von den Klägern mit der Einkommensteuererklärung vorgelegten Unterlagen war es dem FA im Rahmen der Einkommensteuerveranlagung nur möglich, sich einer der pauschalen Schätzungsmethoden zur Ermittlung eines Gewinns nach Durchschnittsätzen zu bedienen. So veranlagte das FA die Kläger bis einschließlich des Wirtschaftsjahres 1964/65 in Anlehnung an die VOL und berücksichtigte dabei neben der Erhöhung des Wertes der Arbeitsleistung des Betriebsinhabers einen Zuschlag beim Grundbetrag, indem es anstelle von einem Zwölftel des Einheitswertes, wie es § 2 VOL vorschrieb, ein Fünftel des Einheitswertes ansetzte. Ab dem Wirtschaftsjahr 1965/66 wandte das FA das sogenannte Bayerische Schätzungsverfahren an, das von einem pauschalen Hektarertrag als Grundbetrag ausgeht (hier: 900 DM pro Hektar), besondere Einnahmen (z. B. Pachtzinsen) und besondere Gewinne (z. B. aus dem Hopfenanbau und aus der Forstwirtschaft) hinzurechnet und davon den gesamten Lohnaufwand und die Schuldzinsen abzieht. Beide Arten der pauschalen Gewinnermittlung nach Durchschnittsätzen stellen grobe Methoden dar, die nicht beanspruchen können, den tatsächlichen Gewinnen der betreffenden Landwirte nahezukommen. Das gilt im besonderen Maße für einen Großbetrieb, wie ihn die Kläger bewirtschafteten.

Die Tatsache der aller Wahrscheinlichkeit nach zu geringen Gewinne nach den obigen Schätzungsmethoden war sowohl den betreffenden Land- und Forstwirten als auch dem FA allgemein bekannt. Keine Kenntnis hatte das FA dagegen von den tatsächlichen Gewinnen, die sich aufgrund eines Vermögensvergleiches ergeben würden. Einen Vermögensvergleich im Schätzungswege durchzuführen, war aber das FA im Rahmen einer Veranlagung nicht in der Lage. Eine solche Möglichkeit wurde erst durch eine Betriebsprüfung eröffnet, mit der ein buchführungspflichtiger Land- und Forstwirt, vor allem ein Gutsbesitzer mit ca. 180 ha bewirtschafteter Fläche, nach dem Gesetz (§§ 162 Abs. 10, 193f. AO) rechnen mußte. Das ergab sich auch aus der nachstehend angeführten einschlägigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH).

2. Die Rechtsprechung des BFH hat sich in mehreren Entscheidungen mit der Frage befaßt, unter welchen Voraussetzungen das FA bei einem Land- und Forstwirt, dessen Gewinn bei der ursprünglichen Veranlagung in Anlehnung an die VOL oder nach einer anderen pauschalen Gewinnermittlung nach Durchschnittsätzen geschätzt worden ist, eine Berichtigungsveranlagung nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO durchgeführt werden kann, wenn sich bei einer Betriebsprüfung aufgrund eines Gesamtvermögensvergleichs (bei dem Vermögenszuwachs und Privatentnahmen addiert werden) im Schätzungswege ein wesentlich höherer Gewinn ergibt.

Im grundlegenden Urteil vom 22. September 1960 IV 249/59 U (BFHE 71, 716, BStBl III 1960, 516) und in anderen dort angeführten Urteilen hat der erkennende Senat dazu ausgeführt, daß auch eine auf Schätzungen beruhende Veranlagung durch eine andere Schätzung nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO berichtigt werden könne, wenn neue Tatsachen im Sinne dieser Vorschrift festgestellt würden. Nach dieser Rechtsprechung muß es sich dabei um Tatsachen handeln, bei deren rechtzeitigem Bekanntsein die tatsächlich vorgenommene Schätzung, hier also die Schätzung in Anlehnung an die Gewinnermittlung nach Durchschnittsätzen mit den festgelegten Zuschlägen, nicht vorgenommen worden wäre. Als solche neue Tatsache kann danach ein vom Betriebsprüfer aufgrund eines Gesamtvermögensvergleiches festgestellter hoher Vermögenszuwachs mit seinen Berechnungsgrundlagen angesehen werden, wenn er weit über dem vom FA nach Durchschnittsätzen ermittelten Gewinn liegt; Voraussetzung dafür ist allerdings, daß das FA bei rechtzeitiger genauer Kenntnis dieser Tatsache von vornherein die Schätzungen nicht nach Durchschnittsätzen, sondern im Wege des Vermögensvergleichs vorgenommen hätte. Diese Voraussetzung kann nach allgemeiner Erfahrung mit einer an Gewißheit grenzenden Wahrscheinlichkeit bejaht werden. Denn die Schätzungen in Anlehnung an die Gewinnermittlung nach Durchschnittsätzen werden nur vorgenommen, wenn es bei den ursprünglichen Veranlagungen an anderen geeigneten Schätzungsunterlagen fehlt. Dem FA kann nicht entgegengehalten werden, es müsse die Tatsache des hohen Vermögenszuwachses gegen sich als bekannt gelten lassen, weil es bei den Veranlagungen bewußt darauf verzichtet habe, die Ermittlungen zur Feststellung der tatsächlichen Gewinne durchzuführen. Solche Ermittlungen sind dem FA bei nichtbuchführenden Landwirten mangels jeglicher Unterlagen im normalen Veranlagungsverfahren nicht zuzumuten; sie können im allgemeinen nur im Zuge einer Betriebsprüfung durchgeführt werden.

Der Senat sieht keine Veranlassung, von diesen Grundsätzen abzuweichen. Die Schätzung nichtbuchführender, jedoch buchführungspflichtiger Landwirte unter Zuhilfenahme der groben Gewinnermittlung nach der VOL oder nach einer ähnlichen pauschalen Schätzungsmethode stellt einen Notbehelf dar, der nicht als ein genereller Verzicht auf die Erfassung der tatsächlichen Gewinne im Rahmen einer Betriebsprüfung gewertet werden kann. Jede andere Beurteilung würde die vom Gesetzgeber gewollte grundsätzliche Unterscheidung in der Besteuerung der kleinen, nichtbuchführungspflichtigen Landwirte und der größeren buchführungspflichtigen Landwirte, die aber keine Bücher führen, weitgehend beseitigen. Auch würde sie die buchführungspflichtigen Landwirte, die keine Bücher führen, gegenüber den buchführungspflichtigen Landwirten, die ihre Gewinne aufgrund einer ordnungsmäßigen Buchführung ermitteln, in einer nicht vertretbaren Weise steuerlich begünstigen.

3. Die BFH-Urteile vom 20. September 1973 IV R 236/79 (BFHE 110, 517, BStBl II 1974, 74) und vom 7. März 1974 IV R 92/70 (BFHE 112, 228, BStBl II 1974, 593) haben zwar für die sogenannten rechtmäßigen Schätzungslandwirte - das waren kleine Landwirte, für die wegen Überschreitens der Umsatzgrenze von 40 000 DM nach § 1 Nr. 3 VOL die Gewinnermittlung nach der VOL nicht zulässig war, für die aber nach § 161 AO auch noch keine Buchführungspflicht bestand - gewisse Einschränkungen der obigen Grundsätze gebracht. Wurde bei solchen rechtmäßigen Schätzungslandwirten der Gewinn in Anlehnung an die VOL geschätzt, so sollte ein bei einer Betriebsprüfung aufgrund der festgestellten Privatentnahmen ermittelter Mehrgewinn nur dann zu einer Berichtigungsveranlagung nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO berechtigen, wenn die Gewinnschätzung in Anlehnung an die VOL auch bei richtiger Schätzungsmethode, vor allem also beim Ansatz von den Verhältnissen der Streitjahre angepaßten Zuschlägen, nicht im Rahmen des von der Betriebsprüfung ermittelten Gewinns gelegen hätte. Außerdem wurde in diesen Urteilen auch darauf hingewiesen, daß bei einer Gewinnschätzung in Anlehnung an die VOL der ermittelte Gewinn nur ein Durchschnittsgewinn sei, der mit dem richtigen Gewinn nicht übereinstimmen könne, da er auf keiner echten Ertragsberechnung beruhe. Daraus sei die Folgerung zu ziehen, daß dieses Inkaufnehmen des "in der Natur der Sache" liegenden Auseinanderklaffens zwischen veranlagtem Gewinn und wirklichem Gewinn zu einer Toleranzspanne nötige, innerhalb deren eine Berichtigung einer solchen Veranlagung aufgrund der späteren Feststellungen durch eine Betriebsprüfung nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO nicht zulässig sei. Diese Toleranzspanne wurde für den Regelfall mit 10 v. H. des ursprünglich ermittelten Gewinns, mindestens jedoch mit 1 000 DM, angegeben. Nur in dieser Höhe sollten die normalerweise vorhandenen Unterschiede zwischen den in Anlehnung an die VOL an sich fehlerfrei geschätzten Gewinnen und den später durch Vermögensvergleich genauer geschätzten Gewinnen unberücksichtigt bleiben, und zwar auch deshalb, weil auch der durch Vermögensvergleich ermittelte Gewinn immerhin nur ein geschätzter Gewinn sei, der notwendigerweise mit Unsicherheitsfaktoren behaftet sei. In den Urteilen wird ausdrücklich darauf hingewiesen, daß dies dann nicht gelten könne, wenn der später aufgrund einer genaueren Schätzungsmethode ermittelte Mehrgewinn so erheblich ist, daß er über die oben dargelegten nicht schädlichen Mehrgewinne weit hinausgeht und durch ihn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der Nachweis für offensichtliche Unrichtigkeit der ursprünglich geschätzten Betriebsergebnisse erbracht ist. Diese Rechtsprechung berührt jedoch den Streitfall nicht, da die Kläger keine rechtmäßigen Schätzungslandwirte sind und der vom Betriebsprüfer ermittelte und von den Klägern der Höhe nach nicht angegriffene Mehrgewinn von 238 163 DM im Vergleichszeitraum eine mehr als 100 %ige Gewinnerhöhung bedeutet, die sowohl außerhalb des denkbaren Ergebnisses jeder Schätzungsmethode in Anlehnung an eine Durchschnittsgewinnermittlung als auch außerhalb der genannten Toleranzspanne liegt.

4. Danach sind im Streitfall die Voraussetzungen für die Berichtigungsveranlagungen nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO zu bejahen. Die festgestellten erheblichen Mehrgewinne der Streitjahre stellen selbst die erforderlichen neuen Tatsachen dar, die vor Ablauf der Verjährungsfrist bekanntgeworden sind. Auf andere zusätzliche neue Tatsachen, wie die behaupteten Geldzuflüsse von der Brennereigenossenschaft, kommt es daher nicht an.

Die Einwände der Kläger gegen die Zulässigkeit der angefochtenen Berichtigungsveranlagungen greifen nicht durch; sie vermögen nichts an der Beurteilung zu ändern, daß der vom Betriebsprüfer festgestellte ungewöhnliche Mehrgewinn eine neue Tatsache im Sinne der angeführten Rechtsprechung darstellt. Insbesondere können sich die Kläger als buchführungspflichtige Schätzungslandwirte, die geprüft werden, nicht auf den Umstand berufen, daß die Regelmäßigkeit solcher Betriebsprüfungen in einzelnen Bundesländern in der Landwirtschaft aus verschiedenen Gründen auch bei größeren Betrieben zu wünschen übrig läßt. Sie können auch nicht darauf vertrauen, daß sie zu den durch diese Versäumnisse Begünstigten gehören; denn es gibt keinen Gleichheitsgrundsatz des Inhalts, daß bestimmte Versäumnisse der Verwaltung allen Beteiligten in gleicher Weise zugute kommen müßten (vgl. Beschluß des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - vom 12. Februar 1969 1 BvR 678/62, BVerfGE 25, 216, BStBl II 1969, 364 unter Abschn. B II 2.).

Das FA hat sich im Streitfall nicht so verhalten, daß eine von den dargelegten Grundsätzen abweichende Beurteilung geboten wäre. Es hat keine Erklärungen abgegeben oder Handlungen vorgenommen, durch die die Kläger zu der Meinung gelangen konnten, das FA habe auf die Ermittlung der tatsächlichen Gewinne im Rahmen einer Betriebsprüfung endgültig verzichtet. Insbesondere können der Verzicht auf die Anwendung von Zwangsmitteln und das Zusenden von Erklärungsvordrucken, durch deren Ausfüllung wenigstens eine Schätzung nach Durchschnittsgewinnen ermöglicht wurde, nicht so gedeutet werden, als habe das FA auf die Ermittlung der tatsächlichen Gewinne im Rahmen einer Betriebsprüfung verzichtet. Keinesfalls kann daraus geschlossen werden, das FA hätte auch bei positiver Kenntnis der tatsächlichen Gewinne genauso in Anlehnung an die VOL oder nach dem sogenannten Bayerischen Schätzungsverfahren die Gewinne geschätzt (vgl. BFH-Urteil vom 13. April 1972 IV R 27/70, BFHE 105, 445, BStBl II 1972, 648). Das Wissen des FA, daß die nach den angewandten Schätzungsmethoden ermittelten Gewinne aller Wahrscheinlichkeit nach zu niedrig sind, begründet noch kein Wissen der Diskrepanz zu den tatsächlichen Gewinnen; jenes Wissen rechtfertigt weder den Vorwurf grober Pflichtverletzung noch die Annahme einer gewollten Subventionierung der Schätzungslandwirte. Wegen der Pflichtverletzung buchführungspflichtiger Landwirte, die keine Bücher führen, hat das FA im Veranlagungsverfahren, das heute eine Massenarbeit darstellt, keine andere Möglichkeit, als zunächst mit der pauschalen Gewinnermittlung nach den genannten Methoden zu arbeiten.

Mit den obigen Ausführungen erledigt sich auch der Einwand der Verwirkung, auf den sich die Kläger zusätzlich stützen. Denn dieser Einwand greift nicht schon bei einer Untätigkeit des FA während eines längeren Zeitablaufes ein, sondern erst, wenn zur Untätigkeit ein bestimmtes Verhalten tritt, aus dem der Steuerpflichtige schließen konnte, daß er mit der Geltendmachung weiterer Steueransprüche nicht mehr zu rechnen braucht. Im Streitfall fand die Betriebsprüfung, die zu den dem Grunde nach strittigen Mehrgewinnen geführt hat, im Juli 1969 statt und umfaßte die Veranlagungszeiträume 1963 bis 1968. Diese Überprüfung zurückliegender Veranlagungszeiträume erfolgte innerhalb einer angemessenen Zeit und liegt damit im Rahmen der normalen Bearbeitung und Prüfung von Steuerfällen durch das FA (vgl. hierzu Urteil des erkennenden Senats vom 14. September 1978 IV R 89/74, BFHE 126, 130, BStBl II 1979, 121 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Die Revision war daher als unbegründet zurückzuweisen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 74057

BStBl II 1982, 273

BFHE 1982, 46

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