Leitsatz

Es wird eine Entscheidung des BVerfG darüber eingeholt, ob § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b EStG in der für den Veranlagungszeitraum 1997 maßgeblichen Neufassung des Einkommensteuergesetzes vom 16. April 1997 (BGBl I 1997, 821) mit dem Grundgesetz insoweit unvereinbar ist, als die Durchsetzung des Steueranspruchs wegen struktureller Vollzugshindernisse weitgehend vereitelt wird.

 

Normenkette

Art. 3 Abs. 1 GG , Art. 100 Abs. 1 GG , § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b EStG

 

Sachverhalt

Der Kläger erklärte im Rahmen seiner Einkommensteuererklärung für das Streitjahr 1997 u.a. sonstige Einkünfte aus Spekulationsgeschäften i.S.d. § 22 Nr. 2 i.V.m. § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b EStG. Den Spekulationsgewinn berücksichtigte das FA erklärungsgemäß im Einkommensteuerbescheid.

Die dagegen mit Zustimmung des FA erhobene Sprungklage begründete der Kläger mit der Verfassungswidrigkeit der Veranlagung, weil entsprechende Gewinne bei anderen Steuerpflichtigen nicht erfasst würden. Das FG wies die Klage als unbegründet ab und ließ die Revision zu.

 

Entscheidung

Der vorlegende Senat hält § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b EStG a.F. wegen Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG für verfassungswidrig, weil die allgemeine Durchsetzung des Steueranspruchs aufgrund der rechtlichen Gestaltung des Erhebungsverfahrens weitgehend unmöglich sei.

Hänge damit die steuerliche Erfassung der Einkünfte i.S. der streitigen Norm im Wesentlichen allein von der Erklärungsbereitschaft des Steuerpflichtigen ab, verstoße die Steuerbelastung gegen die verfassungsrechtlich gebotene Lastengleichheit.

Dieser Verstoß sei dem Gesetzgeber zuzurechnen. Gleichwohl habe der Gesetzgeber die als § 30a AO in die Abgabenordnung übernommenen Regelungen des Bankenerlasses weder aufgehoben noch geändert und damit in Kauf genommen, dass die strukturelle Gegenläufigkeit der Regelungen auch weiterhin Ungleichheiten im Belastungserfolg mit sich bringe. (Brandt) Jürgen Brandt

 

Hinweis

1. Nach der Rechtsprechung des BVerfG verstößt eine Steuernorm gegen den Grundsatz der Allgemeinheit der Besteuerung (Art. 3 Abs. 1 GG), wenn der Besteuerungsanspruch wegen der insoweit bestehenden Regelung weitgehend nicht durchgesetzt werden kann und dieses strukturelle Defizit dem Gesetzgeber zuzurechnen ist (BverfG, Urteil vom 27.6.1991, 2 BvR 1493/89, BStBl II 1991, 654, 665). Bejaht ein Gericht ein solches strukturelles Vollzugsdefizit, muss es dem BVerfG die Frage vorlegen, ob die Steuernorm verfassungswidrig ist (Art. 100 GG).

Dies gilt auch, wenn der Steuerpflichtige keinen entsprechenden Antrag gestellt hat. Sind weder FG noch BFH seinen verfassungsrechtlichen Einwänden gefolgt oder hat er diese erst nach letztinstanzlicher Entscheidung erkannt, besteht für ihn die Möglichkeit, die Verfassungswidrigkeit der für den Rechtsstreit maßgeblichen Steuernorm innerhalb eines Monats nach Ergehen der BFH-Entscheidung durch Verfassungsbeschwerde an das BVerfG geltend zu machen. Angesichts der höheren formalen Anforderungen an die Verfassungsbeschwerde ist es aus verfahrensökonomischen Gründen ratsam, bestehende verfassungsrechtliche Zweifel an einer Steuernorm bereits vor dem FG und dem BFH ausführlich darzustellen und eine Vorlage an das BVerfG anzuregen.

2. Solange über die Vorlage an das BVerfG nicht entschieden ist, kann die Einkommensteuer in Fällen mit entsprechender Erfassung von Spekulationsgewinnen nach § 165 Abs. 3 AO vorläufig festgesetzt werden.

3. Von wesentlicher Bedeutung für die Begründetheit der Vorlage ist, ob die Beschränkung von Kontrollmitteilungen nach § 30a AO im Interesse der verfassungsrechtlich gebotenen Belastungsgleichheit einschränkend – zugunsten einer stärkeren steuerlichen Erfassung von Spekulationsgewinnen – auszulegen ist (für eine solche verfassungskonforme Auslegung der VIII. Senat des BFH, Urteil vom 18.2.1997, VIII R 33/95, BStBl II 1997, 499) oder unverändert als Hindernis für voraussetzungslose – ohne konkrete Anhaltspunkte über nicht erklärte Spekulationsgewinne erfolgende – Kontrollmitteilungen anzusehen ist (so der VII. Senat des BFH, Beschluss vom 28.10.1997, VII B 40/97, BFH/NV 1998, 424 und im Ergebnis auch der vorlegende Senat, der zumindest Kontrollmitteilungen "ins Blaue hinein" für unzulässig hält).

4. Der Gesetzgeber hat das Vollzugsdefizit bei Wertpapierspekulationsgeschäften durch die Ausweitung der Besteuerungsgrundlage (siehe § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG i.d.F. des StEntlG 1999/2000/2002) deutlich verschärft (vgl. OFD Koblenz, Verfügung vom 12.4.2001, S 0220 A – St 53 1, StEK, AO, § 85 Nr. 3), zugleich aber zur Verbesserung der Erhebungssituation den Anwendungsbereich § 45d Abs. 1 EStG erweitert.

 

Link zur Entscheidung

BFH, Beschluss vom 16.7.2002, IX R 62/99

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