Rz. 109

Gem. § 252 Abs. 1 Nr. 4 Hs. 2 HGB sind Gewinne erst dann bzw. nur dann zu berücksichtigen, wenn sie am Abschlussstichtag realisiert sind. Das dadurch kodifizierte sog. Realisationsprinzip stellt letztlich das Gegenstück zum Imparitätsprinzip (Rz 102 ff.) und damit der Berücksichtigung von vorhersehbaren unrealisierten Risiken und Verlusten, die bis zum Abschlussstichtag entstanden sind, dar. Für die Berücksichtigung von Gewinnen ist der Zeitpunkt der Verursachung dieser irrelevant – es kommt einzig auf den Zeitpunkt der Realisierung an.

Somit kommt es bei der Folgebewertung auf der Aktivseite grds. (d. h. mit einigen wenigen Ausnahmen) zur Anwendung des Niederstwerttests (der niedrigere Wert von Buchwert und beizulegendem Wert), da ein höherer Wertansatz einen Ausweis eines schwebenden, nicht realisierten Gewinns voraussetzen würde. Wertminderungen sind dagegen notwendigerweise zu berücksichtigen, wenn der beizulegende Wert (ggf. dauerhaft) unter den Buchwert gefallen ist (§ 253 Rz 217 ff., Rz 279 ff.). Auf der Passivseite bei den Schulden ist dies genau umgekehrt, sodass es grd. zur Anwendung des Höchstwerttests kommt – eine Schuld kann grds. nur reduziert werden, wenn ein Gewinn realisiert wurde. Daher war auch schon bisher die Abzinsung von un- oder unterverzinslichen Verbindlichkeiten handelsrechtlich nicht geboten (§ 253 Rz 29), auch wenn dies bis zum Gj. 2022 steuerlich gefordert wurde. Die bisherige Regelung in § 6 Abs. 1 Nr. 3 EStG a. F. sah vor, unverzinsliche Verbindlichkeiten mit einer Restlaufzeit von mind. zwölf Monaten unter Berücksichtigung eines Rechnungszinsfußes von 5,5 % abzuzinsen. Dieses steuerliche Abzinsungsgebot entfällt durch das Vierte Corona-Steuerhilfegesetz.[1]

Neben der Frage, was unter Gewinn zu verstehen ist (Rz 110), ist i. R. d. Realisationsprinzips insb. der Zeitpunkt der Realisierung bzw. dessen Bestimmung im Einzelfall von Bedeutung (Rz 111 ff.).

 

Rz. 110

Hinsichtlich der Gewinndefinition im Kontext des Realisationsprinzips finden im Schrifttum zwei Konzeptionen Anwendung:

  • Gewinn i. e. S.[2]: Gewinn entspricht dem positiven Unterschiedsbetrag aus Verwertungsertrag und nachkalkulierten Vollkosten. Damit werden einzig positive Erfolgsbeiträge berücksichtigt. Dem VG zurechenbare, jedoch von einer Aktivierung entweder ausgeschlossene oder wahlrechtsgemäß nicht aktivierte Kosten bzw. Aufwendungen werden nicht berücksichtigt.
  • Gewinn i. w. S.[3]: Gewinn entspricht dem positiven Unterschiedsbetrag aus Verwertungsertrag und Bilanzansatz. Damit werden neben den positiven Erfolgsbeiträgen auch negative berücksichtigt. Dem VG zurechenbare, von einer Aktivierung ausgeschlossene oder wahlrechtsgemäß nicht aktivierte Kosten bzw. Aufwendungen werden mitberücksichtigt.

Die Beschränkung des Realisationsprinzips auf den Gewinn i. e. S. erfordert zwecks Erfassung der den Erträgen zuzuordnenden nicht aktivierten Aufwendungen die nachgelagerte Einführung eines weiteren (nicht kodifizierten) Grundsatzes – konkret des Grundsatzes der Abgrenzung der Sache und der Zeit nach.[4]

Nicht zuletzt deshalb wird hier die Anwendung des Gewinns i. w. S. favorisiert. I. E. dieser Auslegung ist das Realisationsprinzip auch bei der Periodisierung von bestimmten Aufwendungen maßgeblich. Die von einer Aktivierung i. R. d. AHK ausgenommen und diesem VG zurechenbaren Aufwendungen, wie etwa Vertriebskosten, sind wie auch andere nicht aktivierte Aufwendungen unter Anwendung des Realisationsprinzips anzusetzen.

[1] BGBl 2022 I S. 911.
[2] Vgl. Baetge/Ziesemer/Schmidt, in Baetge/Kirsch/Thiele, Bilanzrecht, § 252 HGB Rz 187, Stand: 10/2011; Hoffmann/Lüdenbach, NWB-Kommentar Bilanzierung, 14. Aufl. 2022, § 252 HGB Rz 102.
[3] Vgl. Claussen, in Kölner Kommentar zum HGB, 2011, vor § 252 HGB Rz. 44; ADS, Rechnungslegung und Prüfung der Unternehmen, 6. Aufl. 1995–2001, § 252 HGB Rz 79 f.; Ballwieser, in Schmidt, MünchKomm. HGB, 4. Aufl. 2020, § 252 HGB Rn 60.
[4] Vgl. Baetge/Ziesemer/Schmidt, in Baetge/Kirsch/Thiele, Bilanzrecht, § 252 HGB Rz 187, Stand: 10/2011.

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