Rz. 102

§ 252 Abs. 1 Nr. 4 Hs. 1 HGB schreibt neben der vorsichtigen Bewertung (Rz 97 ff.) konkret die Berücksichtigung aller vorhersehbaren Risiken und Verluste vor, die bis zum Abschlussstichtag entstanden sind. Zudem ist in diesem Zuge das Wertaufhellungsprinzip zu beachten (Rz 107 und detailliert Rz 63 ff.). Das – unglücklicherweise – mitunter auch als Verlustantizipation bezeichnete[1] Imparitätsprinzip umfasst entsprechend die Berücksichtigung von am Abschlussstichtag wirtschaftlich entstandenen Risiken und Verlusten,[2] die jedoch noch nicht realisiert sind. Insofern erklärt sich auch die Bezeichnung des Prinzips – sie folgt aus der ungleichen, also der imparitätischen Behandlung von Gewinnen und Verlusten. Während Gewinne erst ergebniswirksam zu berücksichtigen sind, wenn ihre Realisierung bis zum Abschlussstichtag erfolgt ist (Rz 109 ff.), ist bei (erwarteten) Verlusten und Risiken nicht die Realisierung, sondern der Zeitpunkt der Verursachung i. V. m. dem Zeitpunkt ihrer Vorhersehbarkeit maßgeblich. Künftige, d. h. nicht bereits zum Abschlussstichtag entstandene, negative Erfolgsbeiträge fallen dagegen nicht unter die Berücksichtigungspflicht, was auch die Problematik des Begriffs "Antizipation" (Vorwegnahme) verdeutlicht.[3]

 

Rz. 103

Aus dem Imparitätsprinzip sowie der Anwendung des Verursachungsprinzips i. R. d. Periodisierung von Aufwendungen (Rz 134 ff.) auf der einen und dem Realisationsprinzip (das auf die Periodisierung von Erträgen ausstrahlt) auf der anderen Seite ergeben sich aus Sicht der Erfolgsermittlung mitunter ungleichmäßige Verteilungsverläufe. In diesem Zusammenhang wird – u. E. fälschlicherweise – auch von einer Durchbrechung der periodengerechten Erfolgsermittlung durch das Imparitätsprinzip gesprochen.[4] Dies könnte jedoch nur gelten, wenn die periodengerechte Erfolgsermittlung vollständig nach Maßgabe des Realisationsprinzips durchgeführt werden müsste. Dies ist insofern nicht zutreffend, als dass in § 252 Abs. 1 Nr. 5 HGB nicht weiter konkretisiert ist, wie infolge der Vorgabe zur Erfolgsermittlung unabhängig von den zugehörigen Zahlungszeitpunkten bei der periodengerechten Erfassung von Aufwendungen und Erträgen vorzugehen ist. In Konsequenz hat sich die Auffassung etabliert, dass die Periodisierung von Aufwendungen nach dem Verursachungsprinzip und damit in Analogie zum Imparitätsprinzip und jene von Erträgen nach dem Realisationsprinzip zu erfolgen hat (Rz 109 ff.). I. E. kann periodengerecht nicht mit "stets in der gleichen Periode" gleichgesetzt werden. Von einer Durchbrechung der periodengerechten Erfolgsermittlung durch das Imparitätsprinzip kann entsprechend nicht gesprochen werden. Darüber hinaus ist dieses Prinzipiengeflecht vom Gesetzgeber mit der Normierung bewusst in das HGB integriert worden. Für die daher mitunter geforderte Begrenzung der Anwendung des Imparitätsprinzips[5] ist u. E. kein Raum.[6]

 

Rz. 104

Im Kontext des Imparitätsprinzips ist mangels Spezifizierung unklar, was unter Risiken und Verlusten zu verstehen ist. Der Verlustbegriff ergibt sich nicht in Anlehnung an § 275 HGB und damit an den Jahresfehlbetrag, sondern vielmehr i. V. m. dem Einzelbewertungsgrundsatz des § 252 Abs. 1 Nr. 3 HGB (Rz 85 ff.).[7] In Konsequenz ist unter einem Verlust i. S. d. § 252 Abs. 1 Nr. 4 Hs. 1 HGB ein (konkretisierter) negativer Erfolgsbeitrag[8] auf Ebene eines Bewertungsobjekts (zur Abgrenzung einzelner Bewertungsobjekte s. Rz 83 ff.) zu verstehen. Dieser ergibt sich als negativer Unterschiedsbetrag aus den einem Bewertungsobjekt zuzuordnenden Aufwendungen und Erträgen, d. h. er entspricht dem Betrag, um den die Aufwendungen die Erträge auf Ebene der einzelnen VG/Schulden/Geschäfte übersteigen. Der Risikobegriff ergibt sich in diesem Kontext auf Basis der gleichen Systematik. Einziger Unterschied ist der geringe(re) Grad an Konkretisierung. Es handelt sich bei Risiken demgemäß um noch nicht konkretisierte negative Erfolgsbeiträge[9] bzw. Sachverhalte mit Verlustpotenzial.[10] Daraus ergibt sich, dass lediglich bilanzierbare Risiken umfasst sind, weshalb die Formulierung "…alle…Risiken" zu Recht als missverständlich bezeichnet wird.[11] Ab wann ein Risiko als hinreichend konkret betrachtet werden muss, ergibt sich aus dem Kriterium der Vorhersehbarkeit (Rz 105), das sich insofern auch nur auf Risiken und nicht auf Verluste beziehen muss.

 

Rz. 105

Von vorhersehbaren Risiken (für Verluste ist das Kriterium der Vorhersehbarkeit infolge der bereits erfolgten Konkretisierung irrelevant[12]) ist in diesem Kontext auszugehen, wenn mit deren Eintritt ernsthaft zu rechnen,[13] d. h. dieser zu einem gewissen Grad wahrscheinlich ist. Dabei wird regelmäßig das Kriterium der vernünftigen kaufmännischen Beurteilung im Kontext der unternehmensindividuellen Situation maßgeblich sein. I. E. ergeben sich daraus für den Bilanzierenden Ermessensspielräume, da (absolute) Objektivität im Kontext der vernünftigen kaufmännischen Beurteilung nicht existieren kann (zur Diskussion über Objektivit...

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