Rz. 57

Die Ermittlung des Erfüllungsbetrags von Rückstellungen kann in mehrfacher Hinsicht Schätzungen erfordern. Für die Vornahme von Schätzungen gilt das Prinzip der Bewertungsvorsicht als Ausprägung des allgemeinen Vorsichtsprinzips. Danach sind Rückstellungen im Zweifel eher zu hoch als zu niedrig zu bemessen. Die bewusste Überbewertung ungewisser Verbindlichkeiten ist dadurch allerdings nicht gedeckt. Ihr steht das Gebot der vernünftigen kaufmännischen Beurteilung entgegen.

Was vorsichtige Bewertung bedeutet, lässt sich nur in Abhängigkeit von der jeweiligen Bewertungssituation konkretisieren. Kann für einen künftigen Ausgabenanfall ein Punktwert mit hoher Wahrscheinlichkeit oder Sicherheit angegeben werden, ist dieser der Rückstellungsbewertung zugrunde zu legen. Das betrifft solche Verpflichtungen, die der Höhe nach bekannt sind, deren Entstehen dem Grunde nach allerdings noch ungewiss ist. Beispiele sind Rückstellungen für voraussichtlich zu zahlende Vertragsstrafen, Urlaubsrückstellungen oder Steuerrückstellungen.[1] Das Prinzip der Bewertungsvorsicht wirkt sich bei diesen praktisch nicht aus.

 

Rz. 58

Entsprechendes gilt für Pauschalrückstellungen, denen eine Mehrzahl gleichartiger Verpflichtungen zugrunde liegt (z. B. Gewährleistungsrückstellungen, Jubiläums- und Gratifikationsrückstellungen). Sie sind i. H. d. Erwartungswerts der künftigen Ausgaben zu passivieren. Bei einem statistisch mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwartenden Ausgleich von Mehr- und Minderausgaben bei einzelnen Verpflichtungstatbeständen verbietet sich die Einrechnung einer rückstellungserhöhenden Vorsichtskomponente. Etwas anderes gilt dann, wenn aufgrund einer zu geringen Grundgesamtheit das Risiko einer über den Erwartungswert hinausgehenden Inanspruchnahme nicht vernachlässigbar ist. Ob und, wenn ja, in welchem Umfang diesem Risiko durch eine zusätzliche Vorsichtskomponente Rechnung zu tragen ist, bedarf einer Entscheidung im Einzelfall.

 

Rz. 59

Als problematisch erweist sich die Bewertung solcher Verpflichtungen, für die sich lediglich eine Bandbreite möglicher Erfüllungsbeträge angeben lässt. Zu denken ist etwa an Sachleistungsverpflichtungen (z. B. Rekultivierungs-, Instandsetzungs- und Erneuerungsverpflichtungen, Verpflichtungen zur Beseitigung von Umweltschäden, Entfernungs- und Entsorgungsverpflichtungen), bei denen Ungewissheit über die künftige Preis- und Kostenentwicklung besteht. Auch der Erfüllungsbetrag zahlreicher Geldleistungsverpflichtungen lässt sich vielfach nur relativ grob angeben. Das gilt bspw. für drohende Inanspruchnahmen aus Bürgschaften oder für Sozialplanverpflichtungen, die noch durch eine Betriebsvereinbarung zu konkretisieren sind. Die für derartige Verpflichtungen in der Kommentarliteratur angebotenen Bewertungsanweisungen sind in der Mehrzahl der Fälle wenig hilfreich. Wie soll etwa der Betrag mit der höchsten Eintrittswahrscheinlichkeit[2] bei Ungewissheit bestimmt werden? Die gleiche Frage stellt sich im Hinblick auf den alternativ vorgeschlagenen Erwartungswert aller möglichen Ausgabenbeträge, der ggf. um eine (wie auch immer zu bestimmende) Vorsichtskomponente zu erhöhen ist.[3] Bewertungsanweisungen dieser Art sind nur dann umsetzbar, wenn – z. B. aufgrund betrieblicher oder branchenspezifischer Erfahrungen – belastbare Wahrscheinlichkeiten vorliegen. Unter dieser Voraussetzung spricht viel für den Ansatz des wahrscheinlichsten Werts. Eine Nebenbedingung ist zu beachten: Die Rückstellung darf nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit unterdotiert sein. Aus diesem Grund ist bei singulären Verpflichtungen auch die Verknüpfung von Bestandsunsicherheit und Bewertungsfrage abzulehnen. Dazu die folgenden Beispiele:

 
Praxis-Beispiel

Ein Kunde hat einen Defekt des neu installierten Transportbands beanstandet. Nach der Fehlerbeschreibung sind drei Ursachen denkbar, die unterschiedlich hohe Reparaturkosten verursachen und für die nach den betrieblichen Erfahrungen unterschiedliche Eintrittswahrscheinlichkeiten vorliegen: mechanischer Defekt des Antriebsmotors (10 GE; 25 %), Überspannungsschaden in der elektronischen Antriebssteuerung (8 GE; 35 %) oder fehlerhafter Steuerungs-Chip (3 GE; 40 %).

Der Ansatz des Betrags mit der höchsten Wahrscheinlichkeit (3 GE) verletzt das Vorsichtsprinzip, da die Rückstellung mit einer Wahrscheinlichkeit von 60 % unterdotiert ist. Auch der Erwartungswert (10 x 0,25 + 8 x 0,35 + 3 x 0,4 = 6,5 GE) hat diesen Mangel. Mind. anzusetzen ist im vorliegenden Fall ein Betrag von 8 GE. Aufgrund der geringen Abweichung zwischen den Wahrscheinlichkeiten für einen Defekt des Antriebsmotors (25 %) und einen Überspannungsschaden (35 %) ist auch der Ansatz der max. Reparaturkosten (10 GE) vertretbar.

 
Praxis-Beispiel

Auf dem Betriebsgrundstück ist eine Altlast entdeckt worden. Es ist unklar, ob von ihr eine Gefährdung des Grundwassers ausgeht. Die Untersuchungen dauern im Aufstellungszeitpunkt des Jahresabschlusses noch an. Sollte eine Gefährdungslage vorliegen, schätzt das Unt die Schaden...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Haufe Finance Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge