Rz. 43

Eine Rückstellung ist dann zu bilden, wenn der Bilanzierende ernsthaft mit der Inanspruchnahme rechnen muss.[1] Diese Voraussetzung findet sich zwar nicht im Gesetzestext von § 249 HGB, ist aber in Literatur und Praxis unstrittig. Die Unsicherheit bzgl. der Rückstellungsbildung kann bezogen werden auf die

  • Wahrscheinlichkeit über das Be- oder Entstehen einer Verbindlichkeit (Rz 35) oder
  • Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme.
 

Rz. 44

Es handelt sich um zwei unterschiedliche Risiken, wie folgendes Beispiel illustriert.

 
Praxis-Beispiel

Ein produzierendes Unt hat bei Aufstellung des Jahresabschlusses zu entscheiden, ob wegen möglicher Verletzung von Emissionswerten eine Rückstellung für ein Bußgeld der zuständigen Behörde zu bilden ist.

Hier besteht zum einen die Unsicherheit, ob überhaupt eine rechtlich belangbare Verletzung von Emissionswerten vorliegt. Zum anderen besteht die Unsicherheit, ob die zuständige Behörde den Fall aufgreifen und ein Bußgeldverfahren einleiten wird.

 

Rz. 45

Wenn es um Wahrscheinlichkeiten geht, stellt sich die Frage nach möglicher Objektivierung, genauer Quantifizierung von Wahrscheinlichkeiten. Wahrscheinlichkeiten für Inanspruchnahmen lassen sich häufig nicht genau berechnen. Es ist zumeist lediglich die Bestimmung einer Größenordnung (z. B. 0 %, 25 %, 50 %, 75 %, 100 %) möglich. Der BFH hat in seiner Rechtsprechung eine Wahrscheinlichkeit von mehr als 50 % gefordert.[2] Diese "BFH-Formel" ist als zu hohe Objektivierungshürde z. T. kritisiert worden.[3] Außerdem wird vorgebracht, dass das dem deutschen Handelsrecht zugrunde liegende Vorsichtsprinzip (§ 252 Abs. 1 Nr. 4 HGB) eine Rückstellungsbildung auch dann erfordert, wenn die Wahrscheinlichkeit in einer Größenordnung von 25 % liegt.[4]

Die Bestimmung von exakten Eintrittswahrscheinlichkeiten ist häufig nicht möglich, sodass hier das Gesamtbild der Verhältnisse des Einzelfalls zu würdigen ist. Die BFH-Formel erinnert stark an Ansatzregelungen, wie sie die IFRS für Außenverpflichtungen in IAS 37.15 vorsieht (more likely than not). Daher wird sich in der Praxis regelmäßig an dieser Formel zu orientieren sein. Wenn der Bilanzierende den Rückstellungsansatz mit Hinweis auf eine geschätzte Wahrscheinlichkeit von z. B. 45 % verneint, wird er dies entsprechend zu belegen und zu dokumentieren haben. Auch die EU-Bilanzrichtlinie legt sich hier nicht explizit fest, sondern verweist auf den besten Schätzwert von Aufwendungen, die wahrscheinlich eintreten werden.[5]

 

Rz. 46

Wie die Wahrscheinlichkeit zu bestimmen ist, bleibt dem Bilanzierenden überlassen. Objektivierungsmaßstäbe hierzu können sein:[6]

  • Vergangenheitserfahrungen des Bilanzierenden und/oder
  • Branchenerfahrungswerte.

Derartige Erfahrungswerte werden insb. Anwendung finden können bei häufig wiederkehrenden gleichartigen Sachverhalten (Gesetz der großen Zahl), bei denen ausreichend große Grundgesamtheiten zur Ableitung von Eintrittswahrscheinlichkeiten bestehen. Beispiele hierfür sind:

  • Ableitung von Sterbetafeln für Pensionsrückstellungen,
  • Schadensquoten bei industrieller Massenfertigung zur Bestimmung von Gewährleistungsverpflichtungen,
  • Schadensquoten bei VersicherungsUnt,
  • Rückgabequoten im Versandhandel.
 

Rz. 47

Darüber hinaus ist es in typisierender Betrachtungsweise naheliegend, die Beurteilung der Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme an dem begründenden Rechtsverhältnis zu orientieren. Ein Anhaltspunkt wird regelmäßig sein, ob der Anspruchsberechtigte überhaupt Kenntnis von seinem Anspruch hat. Der BFH hat hierzu Typisierungen vorgenommen.[7] Danach ist bei vertraglichen Verpflichtungen zu unterstellen, dass der Anspruchsberechtigte seine Rechte kennt und sie durchsetzt. Demgegenüber stellt der BFH bei einseitigen Verpflichtungen darauf ab, dass die für die Passivierung erforderliche Wahrscheinlichkeit erst dann gegeben sei, wenn die Kenntnisnahme der Gläubiger unmittelbar bevorstehe. Dieser Sichtweise ist nicht zuzustimmen, da dies dem Vorsichtsprinzip entgegensteht. Vielmehr ist bei einseitigen Verpflichtungen nach dem sog. Unentziehbarkeitstheorem die Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme für eine Passivierung hinreichend, wenn sich der Bilanzierende den Verpflichtungen nicht sanktionslos entziehen kann und nach objektiver Sicht eine Inanspruchnahme jederzeit droht.

 
Praxis-Beispiel

Ein Unt begeht im abgelaufenen Gj eine Patentrechtsverletzung. Bis zum Tag der Bilanzaufstellung hat der Patentrechtsinhaber noch keine Ansprüche geltend gemacht. Bei dem Patentrechtsinhaber handelt es sich um ein multinational operierendes Unt, sodass davon auszugehen ist, dass dieses die Patentrechtsverletzung rechtlich verfolgen wird. Die Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme droht, sodass eine Rückstellung zu bilden ist.

[3] Vgl. Küting/Kessler/Cassel/Metz, WPg 2010, S. 325.
[4] Vgl. Moxter, DStR 2004, S. 1058.
[5] Vgl. RL 2013/34/EU ABl. EU L 182/19 v....

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