Rz. 82

In der schärfsten Befehlsform des Gesetzes fordert der Gesetzgeber in § 264 Abs. 2 Satz 2 HGB zusätzliche Angaben im Anhang, wenn besondere Umstände dazu führen, dass der Jahresabschluss ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage nicht zu vermitteln mag. Diese "Brücke zum true and fair view" wird, wie schon bei der Einordnung der Generalnorm hinter die Einzelvorschriften deutlich wird, in der deutschen Praxis bislang kaum genutzt. Grund dafür ist, dass, entgegen der bereits in Art. 2 Abs. 5 Satz 1 der 4. EG-RL 78/660/EWG und nun in Art. 4 Abs. 3 und 4 der EU-RL 2013/34 explizierten Regelung, der deutsche Gesetzgeber im Konfliktfall dem getreuen Bild eben keinen Vorrang vor den Einzelvorschriften eingeräumt hat (Rz 51). Daher wird diese Korrekturvorschrift bislang sehr eng in der Weise interpretiert, dass Angaben nur notwendig sind, wenn "der Jahresabschluss trotz Anwendung der gesetzlichen Vorschriften ohne zusätzliche Angaben im Anhang nicht diejenige Aussagekraft erreichen würde, die ‚ein ordentlicher Kaufmann’ von einem gesetzmäßigen Jahresabschluss eines durchschnittlichen Unt, für das die gleichen Rechnungslegungsvorschriften gelten, erwartet."[1] Zu dieser engen Auslegung hat auch die Einschränkung im Gesetzestext auf "besondere Umstände" und nicht zuletzt die insgesamt mangelnde Informationsbereitschaft deutscher Unt geführt, was etwa an den extrem geringen Veröffentlichungsquoten vor Inkrafttreten des EHUG zu belegen ist.[2] Letztlich stellt diese enge Auslegung auch den Sinn der Vorschrift selbst infrage, bestehen doch bereits in zahlreichen Einzelvorschriften Angabeverpflichtungen. Zudem fordert § 264 Abs. 2 Satz 1 HGB gerade die tatsachengemäße Darstellung, sodass Satz 2 letztlich bei enger Auslegung eine Tautologie darstellt. So ist auch etwa eine unzulässige Abweichung von Rechnungslegungsvorschriften nicht mit Abs. 2 Satz 2 zu heilen.[3] Diese Vorschrift hat somit Subsidiärfunktion.

 
Praxis-Beispiel

Nach dem Bilanzstichtag (auf den für die Bewertung der Bilanzposten abzustellen ist) erfolgt eine Rückzahlung eines Kredits. Im Jahresabschluss wurde eine Rückstellung für das Ausfallrisiko gebildet. Dies stellt nach Ansicht des EuGH keine Tatsache dar, die eine rückwirkende Neubewertung einer Rückstellung erfordert, die sich auf diesen Kredit bezieht und auf der Passivseite der Bilanz ausgewiesen ist. Die Beachtung des Grundsatzes des den tatsächlichen Verhältnissen entsprechenden Bilds verlangt jedoch eine Erwähnung des Wegfalls des mit dieser Rückstellung erfassten Risikos im Jahresabschluss.[4]

 

Rz. 83

Als weitere Beispiele für zusätzliche Anhangangabenotwendigkeiten werden in der Literatur nach dem Hinweis auf die enge Auslegung erstaunlich viele praxisrelevante Sachverhalte benannt. Konkret finden sich folgende berichtenswerte Sachverhalte:[5]

 
Praxis-Beispiel
  • ungewöhnliche abschlusspolitische Maßnahmen, wie Sale-and-lease-back-Geschäfte;
  • aperiodische Gewinnrealisierungen aus dem Abverkauf von VG oder der Abrechnung langfristiger Fertigungsprojekte;[6]
  • Auswirkungen aus der Bildung oder Auflösung stiller Reserven und damit eine verzerrte Darstellung von Entwicklungstendenzen;[7]
  • wesentliche Beeinflussungen des Gewerbesteueraufwands durch Ergänzungs- und Sonderbilanzen bei PersG gem. § 264a HGB;
  • bestehende wesentliche Chancen bei einer Berichterstattung über nicht bilanzierungsfähige Risiken gem. § 285 Satz 1 Nr. 3 HGB;
  • stille Reserven in ganz ungewöhnlicher Höhe oder stark schwankendes Auftrags- und Fertigungsvolumen aus langfristiger Fertigung.[8]
 

Rz. 84

Dagegen stellen nach h. M. keine Angabenotwendigkeiten dar:[9]

 
Praxis-Beispiel
  • Umstände, die zukünftige Gj beeinflussen werden, wie die Insolvenz wichtiger Kunden oder das Auslaufen von Lizenzen; diese sind in den Lagebericht aufzunehmen;
  • Wegfall bilanziell nicht angesetzter Vorteile;
  • Inanspruchnahme größenabhängiger Erleichterungen;
  • (gewöhnliche) stille Wahlrechts- oder Zwangsreserven, die sich aus den Prämissen der Abbildung nach HGB ergeben. Dabei werden unter Wahlrechtsreserven diejenigen verstanden, die das Ergebnis eines Wahlrechts sind, wie etwa aktive latente Steuern nach § 274 HGB. Zwangsreserven resultieren aus dem Unterschied einer vom HGB geforderten Bilanzierung zu einer vom Interessenten als zutreffend eingeschätzten Wertgröße, etwa bei Grundstücken, die einen deutlichen höheren Marktzeitwert haben als der aufgrund des Realisations- und Imparitätsprinzips resultierende Buchwert aus den AK.
 

Rz. 85

Angesichts der vom Gesetzgeber tendenziell vorgenommenen Stärkung der Informationsfunktion des handelsrechtlichen Abschlusses ist daher eine deutlich weitere Auslegung für die Korrekturregelungen als bislang in der Praxis angewandt zu fordern, die sich letztlich auch aus den aufgeführten Beispielen ergi...

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