Rz. 97

§ 252 Abs. 1 Nr. 4 Hs. 1 HGB verlangt im Kontext der Bewertung der im Jahresabschluss ausgewiesenen VG und Schulden ein vorsichtiges Vorgehen, d. h. eine vorsichtige Bewertung. Aus der explizit bewertungsbezogenen Vorschrift, die auch als vorsichtige Bewertung i. e. S. bezeichnet wird,[1] wurde und wird – wenn auch zunehmend seltener – im Schrifttum ein bilanzierungsbezogenes Oberprinzip abgeleitet.[2] Der mitunter als "allgemeines Vorsichtsprinzip" bezeichnete,[3] nicht kodifizierte GoB wird zu einem regelmäßig übergeordneten – ggf. vorrangig anzuwendenden – GoB mit Ausstrahlungswirkung auf nahezu alle Fragen der Bilanzierung und zu dem zentralen (positiven) Charakteristikum des HGB hochstilisiert. Diese Rolle verklärt aber die Zwecke der handelsrechtlichen Rechnungslegung und die Normenrangfolge innerhalb des Handelsrechts. Zunächst sind Spezialvorschriften nicht als Ausprägungen eines GoB zu betrachten und erliegen nicht dem Diktat der (vorrangigen) Anwendung eines GoB. GoB kommen nur zum Tragen, sofern Spezialvorschriften nicht existieren oder Regelungslücken aufweisen (dazu im Detail Rz 17 ff.). Obgleich einige Spezialvorschriften explizit oder implizit ein vorsichtiges Vorgehen vorsehen, kann daraus kein übergeordnetes (handelsrechtliches) Prinzip abgeleitet werden. Andernfalls könnte im Umkehrschluss aus den – dieser Vorsichtsinterpretation nach – unvorsichtigen Spezialvorschriften auch auf ein "Prinzip der unvorsichtigen Bilanzierung" geschlossen werden. Darüber hinaus beschränkt sich die Zielsetzung der handelsrechtlichen Rechnungslegung (auf Ebene des Jahresabschlusses und Einzelabschlusses nach § 325 Abs. 2a HGB) weder auf den Gläubigerschutz noch ist dieser im Verhältnis zu den anderen Rechnungslegungszwecken vorrangig zu behandeln oder schließen sich diese zwingend gegenseitig aus.[4]

 

Rz. 98

Bei dem "allgemeinen Vorsichtsprinzip" handelt sich vielmehr um eine allgemeine menschliche Beurteilungskategorie, die keinesfalls mit dem bewertungsbezogenen Grundsatz der Vorsicht i. S. d. § 252 Abs. 1 Nr. 4 Hs. 1 HGB verwechselt werden darf und nicht als handelsrechtliches Prinzip bezeichnet werden sollte. Davon unbenommen bleibt jedem Individuum etwas als "vorsichtiges" oder "unvorsichtiges" Vornehmen einzuschätzen, was im Übrigen hochgradig subjektiv ist. Die Ableitung des allgemeinen Vorsichtsprinzips ergibt sich wohl regelmäßig auch aus der subjektiven und/oder kulturell geprägten Einschätzung, dass nach HGB etwa im Vergleich zu den IFRS "vorsichtiger" zu bewerten sei.

Ferner wäre mit einer Dominanz des Vorsichtsprinzips stets die Gefahr der Bildung (erheblicher) stiller Reserven und der Unterbewertung verbunden. Dies gilt im Besonderen im Hinblick auf das "allgemeine Vorsichtsprinzip", aber auch hinsichtlich der mitunter attestierten Vorrangigkeit des kodifizierten bewertungsbezogenen Vorsichtsprinzips vor anderen GoB. Dies würde regelmäßig zu einer Durchbrechung des Stichtagsprinzips führen. In diesem Sinne hat auch der BFH im Zusammenhang mit dem Ansatz von Verbindlichkeitsrückstellungen entschieden: Zum Bilanzstichtag muss aufgrund objektiver Kriterien stets ernsthaft mit einer Inanspruchnahme zu rechnen sein, um eine Rückstellung zu bilden. Konkret wurden Nacherfüllungsarbeiten an Werklieferungen, die im Mai und Juni des Folgejahres durchgeführt werden mussten, nicht als Rückstellungsgrund zum Stichtag akzeptiert, da zu diesem Zeitpunkt, obwohl das Werk schon ausgeliefert war, keine Mängelrüge oder zumindest ein objektiver Anknüpfungspunkt, dass eine solche erfolgen würde, vorlag.[5] Vergleichbar hat auch etwa das IDW für den Stichtag 31.12.2019 die Möglichkeit zur Berücksichtigung drohender Verluste oder Wertanpassungen über außerplanmäßige Abschreibungen aufgrund der Anfang 2020 beginnenden Corona-Krise verneint und diese – obwohl die die Pandemie auslösende Krankheit Covid-19 heißt – als wertbegründendes Ereignis für das Gj 2020 angesehen (Rz 69).[6]

 

Rz. 99

Im Schrifttum besteht – unabhängig von einer etwaigen Einordnung als Oberprinzip – mittlerweile theoretisch Einigkeit darüber, dass das (bewertungsbezogene) Vorsichtsprinzip nicht i. S. e. stets gebotenen worst case-Bewertung zu interpretieren ist.[7] Dem letztlich jedoch selbst widersprechend wird regelmäßig eine Orientierung zumindest in Richtung der worst case-Bewertung vorgeschlagen (s. Konzeptliste unter Rz 100).

I. E. kommt das Vorsichtsprinzip i. S. d. § 252 Abs. 1 Nr. 4 Hs. 1 HGB im Kontext der Bewertung zum Tragen, sofern sich Ermessensspielräume bzw. Schätzungserfordernisse ergeben.

 

Rz. 100

Vorsichtig meint dabei die sorgfältige Erfassung bzw. Berücksichtigung sämtlicher wertbeeinflussender Faktoren (Risiken und Chancen). Daraus ergibt sich zunächst eine Bewertungsbandbreite, die von der worst case-Bewertung auf der einen Seite und der best case-Bewertung auf der anderen Seite begrenzt wird. Umstritten ist diesbzgl. weiterhin, welcher Wert innerhalb der Bandbreite zu wählen ist. Folgende Konzepte sind hier u. a. im Schrifttum v...

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