Sachverhalt

Bei dem Vorabentscheidungsersuchen des BFH vom 16.6.2015[1], XI R 15/13, ging es um die Frage, ob eine Einrichtung des öffentlichen Rechts (im Ausgangsverfahren ein Landkreis), die mit einem sog. "Kreisstraßenbetrieb" einen Betrieb gewerblicher Art unterhielt, für die Anschaffung von Geräten (Arbeitsmaschinen, Nutzfahrzeuge) den Vorsteuerabzug geltend machen konnte, obwohl die angeschafften Geräte zu weniger als 10 % (hier: zu 2,65 %) für unternehmerische Zwecke (des Betriebs gewerblicher Art) und zu 97,35 % für die hoheitlichen Zwecke der Einrichtung verwendet wurden.

Die Klägerin war der Auffassung, die 10 %-Regelung in § 15 Abs. 1 Satz 2 UStG sei in den Fällen unionsrechtlich[2] ohne Rechtsgrundlage, in denen einen Gegenstand nicht zu mehr als 90 % für unternehmensfremde Tätigkeiten (also z. B. für den privaten Bedarf des Unternehmens[3]), sondern - wie im Streitfall - zu mehr als 90 % für nichtwirtschaftliche Tätigkeiten im engeren Sinne (hier: hoheitliche Tätigkeiten einer juristischen Person des öffentlichen Rechts[4]) verwendet wird. Deutschland sei zu der 10 %-Regelung nur für die Fälle einer typisch gemischten (unternehmerischen und unternehmensfremden) Verwendung der Gegenstände ermächtigt worden, nicht aber in den Fällen, in denen ein Gegenstand sowohl für unternehmerische als auch für nichtwirtschaftliche Tätigkeiten im engeren Sinne genutzt werde. Die Klägerin war daher der Auffassung, ihr stünde der Vorsteuerabzug entsprechend dem unternehmerischen Nutzungsanteil zu, obwohl dieser kleiner als 10 % war.

Der EuGH musste entscheiden, ob die Ratsentscheidung entsprechend ihrem Wortlaut nur für die Fälle der typisch gemischten (teils unternehmerisch, teils unternehmensfremd) oder in allen Fällen einer Verwendung sowohl für unternehmerische als auch nichtunternehmerische Zwecke anwendbar war.

 

Entscheidung

Der EuGH hat unter Bezugnahme auf seine Entscheidung vom 12.2.2009[5] wiederholt, dass mit Art. 6 Abs. 2 Buchst. a der 6. EG-Richtlinie keine Regel eingeführt werden sollte, nach der Tätigkeiten, die nicht in den Anwendungsbereich der MwSt fallen (nichtwirtschaftliche Tätigkeiten), als Tätigkeiten betrachtet werden können, die für "unternehmensfremde Zwecke" i. S. dieser Vorschrift ausgeführt werden. Eine solche Auslegung würde Art. 2 Nr. 1 der 6. EG-Richtlinie jeden Sinn nehmen. Demzufolge und weil das EuGH-Urteil vom 12.2.2009 (wie alle Urteile) mit Rückwirkung ergangen ist (d.h. das Urteil gilt vom Inkrafttreten der ausgelegten Bestimmung an), hat der EuGH weiter entschieden, dass es unzulässig ist, den Begriff "unternehmensfremde Zwecke" für die Zeit vor dem EuGH-Urteil vom 12.2.2009, aus dem sich ergibt, dass dieser Begriff nicht die Unterscheidung zwischen wirtschaftlichen und nicht wirtschaftlichen Tätigkeiten eines Unternehmers, sondern die Unterscheidung zwischen unternehmerischen und privaten Tätigkeiten betrifft, anders auszulegen.

Weil zusätzlich der Begriff "unternehmensfremde Zwecke" i. S. v. Art. 1 der Ratsentscheidung 2004/817 genauso wie in Art. 6 Abs. 2 Buchst. a der 6. EG-Richtlinie ausgelegt werden muss, kommt der EuGH insgesamt zu dem Ergebnis, dass Art. 1 der Ratsentscheidung 2004/817 nicht für den Fall gilt, dass ein Unternehmen Gegenstände oder Dienstleistungen erwirbt, die es zu mehr als 90 % für nicht wirtschaftliche - nicht in den Anwendungsbereich der MwSt fallende - Tätigkeiten nutzt.

 

Hinweis

Der EuGH hatte mit Urteil vom 12.2.2009[6] entschieden, dass die Tätigkeit einer Organisation im allgemeinen Interesse ihrer Mitglieder keine wirtschaftliche Tätigkeit darstellt. Der Tatbestand einer unentgeltlichen Wertabgabe nach Art. 6 Abs. 2 Buchst. a der 6. EG-Richtlinie (jetzt Art. 26 Abs. 1 MwStSystRL) sei jedoch nicht eröffnet. Voraussetzung hierfür sei die Verwendung eines Gegenstandes für "unternehmensfremde Zwecke".

Seit der VNLTO-Entscheidung des EuGH wird zwischen drei verschiedenen Möglichkeiten der Nutzung eines Gegenstands unterschieden: unternehmerische Tätigkeiten, d.h. entgeltliche und entweder steuerpflichtige oder steuerfreie oder ggf. auch (nach dem Territorialitätsprinzip) nicht steuerbare Umsätze, unternehmensfremde Tätigkeiten in dem Sinne, dass ein dem Unternehmen zugeordneter Gegenstand auch für unternehmensfremde, z. B. private Zwecke des Unternehmers genutzt wird, sowie eine weder unternehmerische noch unternehmensfremde Tätigkeit, also nicht wirtschaftliche Tätigkeit, die keine unternehmensfremde Tätigkeit darstellt, z. B. der Hoheitsbereich einer juristischen Person des öffentlichen Rechts, der ideelle Bereich eines Vereins oder die Betätigung einer juristischen Person des Privatrechts als reine Holdinggesellschaft ohne Unternehmerstatus.

Sowohl der Wortlaut der Ratsermächtigung als auch die unterschiedlichen Rechtsfolgen für den Vorsteuerabzug im Falle einer Verwendung für nichtwirtschaftliche Tätigkeiten im engeren Sinne sprechen nach dem vorliegenden Urteil dafür, dass die streitige Ratsermächtigung nur die Fälle der typisch gemischten Verwendu...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Finance Office Professional. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge