Leitsatz

1. Art. 203 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist dahin auszulegen, dass

  • die von einer Person in einer Rechnung ausgewiesene Mehrwertsteuer von dieser Person unabhängig davon geschuldet wird, ob ein steuerpflichtiger Umsatz tatsächlich vorliegt;
  • allein aus dem Umstand, dass die Steuerverwaltung in einem an den Aussteller dieser Rechnung ergangenen Steuerprüfungsbescheid die von diesem erklärte Mehrwertsteuer nicht berichtigt hat, nicht geschlossen werden kann, dass diese Verwaltung anerkannt hat, dass der Rechnung ein tatsächlich bewirkter steuerpflichtiger Umsatz gegenübersteht.

2. Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass die Art. 167 und 168 Buchst. a der Richtlinie 2006/112 sowie die Grundsätze der steuerlichen Neutralität, der Rechtssicherheit und der Gleichbehandlung es nicht verwehren, dass dem Empfänger einer Rechnung mangels Vorliegens eines tatsächlich bewirkten steuerpflichtigen Umsatzes das Recht auf Vorsteuerabzug versagt wird, obwohl die vom Aussteller der Rechnung erklärte Mehrwertsteuer in dem an diesen ergangenen Steuerprüfungsbescheid nicht berichtigt wurde. Wird jedoch in Anbetracht von Steuerhinterziehungen oder Unregelmäßigkeiten, die dieser Aussteller begangen hat oder die dem Umsatz, auf den das Recht auf Vorsteuerabzug gestützt wird, vorausgegangen sind, davon ausgegangen, dass dieser Umsatz tatsächlich nicht bewirkt wurde, ist anhand objektiver Gesichtspunkte und ohne dass vom Rechnungsempfänger Nachprüfungen verlangt werden, die ihm nicht obliegen, nachzuweisen, dass der Rechnungsempfänger wusste oder wissen musste, dass dieser Umsatz in eine Hinterziehung von Mehrwertsteuer einbezogen war, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.

 

Normenkette

§ 14c, § 15 Abs. 1 UStG, Art. 167ff., 178 und 203 Richtlinie 2006/112/EG, Art. 21 Abs. 1 Buchst. c 6. EG-RL

 

Sachverhalt

LVK machte den Vorsteuerabzug aus Rechnungen geltend, die sie bar bezahlt hatte. Zweifel über die Durchführung der Lieferungen konnten nicht ausgeräumt werden. Bei einer Prüfung beim Lieferanten dagegen wurde die Mehrwertsteuer für diese Lieferungen nicht geprüft und deshalb auch nicht korrigiert. Das bulgarische Gericht hatte Zweifel, ob berücksichtigt werden müsste, dass bei dem angeblichen Lieferer die Steuer festgesetzt worden ist.

 

Entscheidung

Zum Vorsteuerabzug fasst der EuGH die Grundsätze zusammen:

a) Kein Vorsteuerabzug, wenn aufgrund der objektiven Sachlage feststeht, dass dieses Recht in betrügerischer Weise oder missbräuchlich geltend gemacht wird. Ausnahme: Der Rechnungsempfänger konnte nicht wissen, dass der betreffende Umsatz in eine vom Lieferer begangene Steuerhinterziehung einbezogen war oder dass in der Lieferkette bei einem anderen Umsatz, der dem vom Steuerpflichtigen getätigten Umsatz vorausging oder nachfolgte, Mehrwertsteuer hinterzogen wurde.
b) Der Unternehmer, der den Vorsteuerabzug geltend macht, muss ohne erkennbare Anhaltspunkte (siehe a) grundsätzlich nicht prüfen, ob auf der Ebene der Wirtschaftsteilnehmer einer vorgelagerten Umsatzstufe Unregelmäßigkeiten oder eine Steuerhinterziehung vorliegen. Unregelmäßigkeiten beim Rechnungsaussteller oder einem seiner Lieferer dürfen nicht dazu führen, dass deshalb der Empfänger der Rechnung mittelbar zu Nachprüfungen bei seinem Vertragspartner verpflichtet wird, die ihm grundsätzlich nicht obliegen.

Bestreitet der Unternehmer die Behauptung, es fehle an einer Lieferung, ist es Sache des nationalen Gerichts, dies nach Maßgabe der Beweisregeln des nationalen Rechts durch eine umfassende Beurteilung aller Gesichtspunkte und tatsächlichen Umstände des Ausgangsverfahrens zu überprüfen. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass es Sache des den Vorsteuerabzug begehrenden Unternehmers ist, die Voraussetzungen für den Vorsteuerabzug nachzuweisen. Für den Vorlagesachverhalt weist der EuGH darauf hin, bei der Gesamtbeurteilung sei zu berücksichtigen, dass die vom Rechnungsempfänger vorgelegten Dokumente ebenfalls Unregelmäßigkeiten aufwiesen.

 

Hinweis

1. Das Steuerrechtsverhältnis zwischen (tatsächlich oder nur angeblich) Leistendem und FA einerseits und (tatsächlichen oder nur angeblichen) Leistungsempfänger und FA andererseits ist jeweils für sich zu beurteilen. Denn die Frage, ob eine Steuer geschuldet wird – entweder aufgrund einer Leistung oder aufgrund einer Rechnung über eine angebliche Leistung – und ob eine Rechnung zum Vorsteuerabzug berechtigt, hängt von anderen Kriterien ab. Letzteres ist nicht der Fall, wenn der Rechnung keine oder eine andere Leistung zugrunde liegt oder wenn die Rechnungsvoraussetzungen nicht erfüllt sind.

2.Eine zu Unrecht in Rechnung gestellte Steuer kann nur berichtigt werden, wenn der Aussteller der Rechnung seinen guten Glauben nachweist oder die Gefährdung des Steueraufkommens rechtzeitig und vollständig beseitigt hat. Die Finanzverwaltung ist jedenfalls nicht verpflichtet, zu prüfen, ob den ausgestellten Rechnungen tatsächlich eine Leistung zugrunde gelegen ha...

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