Ein Bescheid kann gem. § 165 Abs. 1 Satz 1 AO vorläufig ergehen, soweit ungewiss ist, ob die Voraussetzungen für die Entstehung einer Steuer eingetreten sind. Die Ungewissheit bezieht sich aber nur auf die Tatsachengrundlage eines Steuertatbestands; eine Unsicherheit in der steuerrechtlichen Beurteilung eines feststehenden Sachverhalts rechtfertigt die Anordnung der Vorläufigkeit nicht. Dass § 165 Abs. 1 Satz 2 AO[1] erweiternd auch rechtliche Gesichtspunkte in den Tatbestandsbereich des § 165 AO einbezieht, indem "diese Regelung" (als Satz 1) für die (in Satz 2 Nr. 1 bis 4) explizit angeführten Situationen "auch anzuwenden (ist)", berührt den durch Satz 1 der Regelung auf die tatsächlichen Sachumstände beschränkten Anwendungsbereich des § 165 Abs. 1 Satz 1 AO nicht.[2] Zu den Voraussetzungen gehören alle steuererheblichen Tatsachen und Zustände, aber auch rechtliche Vorfragen (zivil-, arbeits- und verwaltungsrechtliche) wie z. B. Eigentum, Arbeitsverhältnisse, Gesellschaftsverhältnisse, erbrechtliche Fragen, familienrechtliche Angelegenheiten, baurechtliche Fragen usw.

Auch künftige Tatsachen, die Rückschlüsse auf die Beurteilung im Veranlagungszeitraum ermöglichen, können die Vorläufigkeit rechtfertigen, z. B. in Fällen der Liebhaberei (Verluste über viele Jahre) oder der Ungewissheit der Vermietungsabsicht, in denen eine endgültige Entscheidung häufig erst nach Ablauf und Beurteilung eines längeren Zeitraums möglich ist.

Sind die Voraussetzungen für die Entstehung der Steuer bezüglich einer Hauptfrage ungewiss und spricht deswegen das Finanzamt die Vorläufigkeit aus, umfasst die Vorläufigkeit grundsätzlich auch die von der Hauptfrage abhängigen Folgefragen, auch wenn es sich insoweit nur um steuerliche Rechtsfragen handelt.

Ungewissheit bedeutet: Steuererhebliche Tatsachen usw. sind dem Finanzamt nicht bekannt oder unklar und sollen noch aufgeklärt werden; ist nicht zu erwarten, dass die Ungewissheit überhaupt beseitigt werden kann, kommt eine Vorläufigkeit nicht in Betracht.

Auch Änderungsbescheide können erstmals für vorläufig erklärt werden, z. B. aufgrund einer Außenprüfung, soweit der Rahmen der Änderungsvorschrift nicht überschritten wird.

 
Praxis-Beispiel

Vorläufigkeit nach Außenprüfung

Bei einer abgekürzten Außenprüfung tauchen neue Tatsachen auf, deren Aufklärung längere Zeit in Anspruch nimmt. Insoweit kann der nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO ergehende Änderungsbescheid für vorläufig erklärt werden.

Grundsätzlich hat die Behörde die für die Besteuerung maßgeblichen Voraussetzungen aufzuklären. Nur wenn dies im Rahmen der Verhältnismäßigkeit und Zumutbarkeit für alle Beteiligten nicht alsbald möglich ist, kommt eine Vorläufigkeit in Betracht. Das Finanzamt hat insoweit ein Ermessen, ob es vorläufig veranlagt.

Fraglich ist, ob das Finanzamt, wenn es vorläufig festsetzt, die ungewissen Voraussetzungen zugunsten oder zuungunsten des Steuerpflichtigen annehmen muss. Die Frage stellt sich insbesondere bei Verlusten, d. h. in Fällen zweifelhafter Einkunftserzielungsabsicht. Hierbei gilt Folgendes[3]:

Es ist grundsätzlich nicht zulässig, den Steuerpflichtigen mit Steuern zu belasten, solange nicht feststeht, dass diese tatsächlich entstanden sind. Die Ungewissheit der für die Entstehung der Steuer erheblichen Tatsachen rechtfertigt daher nur dann eine vorläufige Ausklammerung steuermindernder Besteuerungsgrundlagen, wenn erheblich mehr Gründe gegen ihr Vorliegen sprechen. Für die Einkunftserzielungsabsicht bedeutet dies, dass bei gleicher Wahrscheinlichkeit und damit im Regelfall die Steuer unter Einbeziehung der erklärten Verluste vorläufig festzusetzen ist.

Der Steuerpflichtige kann gegen die vorläufige Festsetzung Einspruch einlegen mit der Begründung, die Vorläufigkeit sei unrechtmäßig. Wenn das Finanzamt dem folgt, muss es den Vorläufigkeitsbescheid aufheben und einen neuen Bescheid ohne den Vorläufigkeitsvermerk erlassen.

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