Abgesehen von den oben erwähnten denkbaren Anwendungsfällen von KI ist grundsätzlich jedoch festzustellen, dass KI – vor allem für Anwendungsfälle des Steuerrechts – noch immer in den Kinderschuhen steckt. Die tatsächliche und vor allem verlässliche Umsetzbarkeit von einzelnen öffentlichkeitswirksam beworbenen Anwendungsmöglichkeiten erweist sich in der Praxis oft als wesentlich weniger weit fortgeschritten, als es einige Beiträge auch namhafter Anbieter vermuten ließen.

Insofern versuchen wir nachfolgend, möglichst objektiv die denkbaren KI-Anwendungsfälle zu beurteilen, ohne einem Hype zu verfallen, aber auch ohne einen zukunfts-/technologiefeindlichen Eindruck zu hinterlassen. Wir werden in diesem Kapitel ausgewählte KI-Anwendungsfälle beschreiben, sie kritisch beurteilen und deutlich machen, ob sie tatsächlich bereits heute in der Praxis sinnvoll einsetzbar sind. Dabei haben wir uns an der gewohnten Struktur des VP-Zyklus orientiert:

  1. VP-Strategie & VP-Modellierung
  2. VP-Setzung & VP-Monitoring & VP-Forecasting
  3. VP-Dokumentation & VP-Verteidigung

1. VP-Strategie & VP-Modellierung

Insbesondere im Bereich der VP-Modellierung könnten sich durch den Einsatz von KI Mehrwerte für die Mitarbeiter, die mit VP zu tun haben, ergeben. Die meisten Unternehmen haben mittlerweile VP-Richtlinien erstellt, die im Intranet veröffentlicht sind. Werden diese gelesen? Wie oft werden diese aktualisiert? Registrieren es die VP-Anwender, wenn es Updates gibt? Sind alle Abschnitte der VP-Richtlinie tatsächlich für alle VP-Anwender wichtig? Wie lange dauert es, bis man das Gesuchte in der VP-Richtlinie gefunden hat?

Als Alternative zu statischen und oft umfangreichen VP-Richtlinien bieten sich sicherlich Chatbots an, an die sich VP-Anwender mit natürlichsprachlich formulierten Fragen wenden können. Was aber hat es mit solchen Chatbots auf sich?

Ein wichtiger Teilbereich der künstlichen Intelligenz für die Verwendung im steuerlichen bzw. VP-Kontext ist die Auswertung natürlichsprachlicher Texte (›Natural Language Processing‹, NLP). In diesem Zusammenhang hatten Dialogsysteme bzw. sog. Chatbots in den vergangenen Jahren einen regelrechten Hype erfahren, der aktuell nach dem Abflachen der ersten Euphorie nun doch weniger ausgeprägt beobachtbar ist. Ziel schien zunächst eine vollautomatische Auswertung und Interpretation von Gesetzestexten und anderen verrechnungspreisrelevanten Texten zu sein – mit dem Zweck, Informationen für Dialogsysteme abzuleiten, die auf Basis dieser Informationen dem Nutzer konkrete individuelle Fragen zu VP- oder Steuer-Sachverhalten präzise und verlässlich beantworten können sollten. Es ging also darum, einen Algorithmus zu entwickeln, der sehr individuelle natürlichsprachliche Fragen ›verstehen‹ und einen aus VP-/Steuersicht korrekten Antwortsatz erzeugen kann. Die Umsetzung derart ausgereifter Systeme scheint jedoch in der Praxis noch nicht gelungen zu sein. Zwar werben einige Anbieter damit, aber eigene Tests mit selbstgestellten Fragen lassen sehr schnell erkennen, wie schwach die Algorithmen bzw. wie komplex natürliche Sprache und auch steuerliche Regelungen sind. Insofern wird es nach unserer Einschätzung noch Monate oder eher Jahre dauern, bis ein Chatbot auf Basis von breitem steuerlichen oder VP-Wissen in der Lage ist, korrekte Antwortsätze zu erzeugen.

Was allerdings bereits heute funktioniert, sind Dialogsysteme, die Entscheidungsbäume zur Dialogsteuerung verwenden. Sie verfügen über eine begrenzte steuerliche oder VP-Wissensbasis (z. B. VP-Vorschriften verschiedener Länder) und geben vordefinierte Antworten auf einen vordefinierten Fragenkatalog. Grundsätzlich können die meisten Vorschriften in Entscheidungsbäume ›übersetzt‹ werden. Dies gelingt jedoch weniger gut, je unstrukturierter die (steuerlichen) Regelungen formuliert sind bzw. je unbestimmter die verwendeten Rechtsbegriffe sind (was leider zunehmend der Fall ist). Chatbots sind beispielweise bereits für Fragen eingesetzt worden wie,

  • ob eine Aktivität eine Betriebsstätte darstellt,
  • ob ein bestimmter Sachverhalt quellensteuerrelevant ist,
  • welche Vorschriften für Immigration, Visavergabe und Arbeitsrecht gelten,
  • wie bestimmte Anlagenkäufe zu bilanzieren sind,
  • welche VP-Regelungen in einem bestimmten Land gelten etc.

Wichtig ist uns jedoch, klarzustellen, dass wir entscheidungsbaumbasierte Dialogsysteme nicht als KI ansehen. Es sind einfache Entscheidungsbäume, die man auch mit Excel erstellen kann, die jedoch, wenn Sie das vorliegende Problem lösen, sehr gut einsetzbar sind. Die KI kommt ins Spiel, um die natürlichsprachliche Frage möglichst treffsicher mit der vorhandenen Frage zu ›mappen‹.

Der oben zuletzt genannte VP-Chatbot, der sich heute bereits im Einsatz befindet, funktioniert wie folgt:

 

Praxisbeispiel ›VP-Chatbot‹

VP-Regularien unterliegen ständigen Veränderungen. Insbesondere im internationalen Kontext führt dies zu einem hohen Rechercheaufwand bei der Beschaffung VP-relevanter Informationen. Aus diesem Grund wurde ein intelligentes Dialogsy...

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