Die handelsrechtliche Rechnungslegung dient u. a.

  • der Ermittlung des ausschüttungsfähigen Gewinns (Zahlungsbemessungsfunktion),
  • der Ermittlung der Steuern,
  • der Information von Gläubigern und Selbstinformation des Managements (Informationsfunktion) sowie
  • der Rechenschaftslegung des Managements gegenüber den Aktionären und Gesellschaftern (Rechenschaftsfunktion).

Hier von einer Pluralität der Bilanzierungszwecke zu sprechen, würde in die Irre führen: Dominierender Zweck der handelsrechtlichen Bilanz ist die Ermittlung und Begrenzung des ausschüttungsfähigen Gewinns. Vor diesem Hintergrund spielen Gläubigerschutz und Vorsichtsprinzip ihre prägenden Rollen. Der Kaufmann soll sich eher zu arm als zu reich rechnen. Der Gewinn und damit jedenfalls bei Kapitalgesellschaften der ausschüttungsfähige Betrag sollen eher zu niedrig als zu hoch ausgewiesen werden. Diese Grundentscheidung des Handelsrechts kann erklären, warum

  • Aktivierungswahlrechten (statt Aktivierungspflichten) in Sachen selbst erstellte immaterielle Anlagen, Disagio und aktive latente Steuern kaum relevante Passivierungswahlrechte (sondern Passivierungspflichten) gegenüberstehen,
  • Anschaffungskosten nur unter- und nicht überschritten werden dürfen und
  • Verluste bereits dann auszuweisen sind, wenn sie drohen, Gewinne hingegen erst dann, wenn sie endgültig realisiert sind.

Der Zusammenhang zwischen

  1. Begrenzung des ausschüttungsfähigen Gewinns,
  2. Gläubigerschutz und
  3. Vorsichtsprinzip

ist freilich weniger stringent, als es scheinen mag. Was zunächst die Ausschüttungsbegrenzung anbelangt, zeigen die Aktivierungswahlrechte der §§ 248 HGB (selbst erstellte immaterielle Anlagen) und 274 HGB (aktive latente Steuern), dass hierfür nicht zwingend der Bilanzansatz begrenzt werden muss. Werden die Posten in der Handelsbilanz aktiviert, so ist gemäß § 268 Abs. 8 HGB ein entsprechender Betrag im Eigenkapital gegen Ausschüttungen zu sperren. Analoge Regelungen wären auch für den Bereich der Bewertung, etwa die Zeitbewertung von Finanzinstrumenten denkbar.

Überdies entspringt die Annahme, eine vorsichtige Bewertung würde dem Gläubigerschutz am besten entsprechen, einem statischen und substanzwertorientierten Bilanzverständnis. Wenn es heißt, dass der Kaufmann sich eher zu arm als zu reich rechnen soll, so steht damit die Vermögenslage im Fokus des Interesses. Die Diskrepanz zur Theorie und Praxis der Unternehmensbewertung ist offensichtlich. Die Bewertung eines Unternehmens konzentriert sich gerade umgekehrt auf Ertragskraft und Ertragsaussichten. Wenn aber bei Kauf- und Investitionsentscheidungen über ein Unternehmen der Ertragswert die entscheidende Größe ist und Cashflow-Betrachtungen auch die heutige Kreditvergabepraxis dominieren, so vermag nicht mehr einzuleuchten, dass ein substanzwertorientiertes Vorsichtsprinzip dem Gläubigerschutz am besten diene.

Bereits Eugen Schmalenbach hatte 1919 (!) in diesem Sinne argumentiert, dass eine dynamische Bilanz, die nicht den Vermögensstatus in den Mittelpunkt stelle, sondern einen vergleichbaren Periodenerfolg, nicht nur der Selbstinformation des Kaufmanns, sondern auch den Gläubigerschutzerfordernissen am besten genüge. Da nur ein nachhaltiger Periodenerfolg die Liquidität der Unternehmung sichere, diene eine die Erfolgsentwicklung in den Mittelpunkt stellende Bilanzierung auch den Gläubigern in besserer Weise. Sie setze diese und den Kaufmann in die Lage, rechtzeitig zu erkennen, ob der Betrieb in gleicher Weise fortgeführt werden könne oder ob gegensteuernde Maßnahmen einzuleiten seien.[1]

Zu den beiden Perspektiven des Gläubigerschutzes – Information und Substanzschutz – folgendes Beispiel:

 

Beispiel

Am 2.1.01 beginnt Bauunternehmer B mit dem Bau eines Bürogebäudes, Kosten 5 Mio. EUR, Vertragspreis 6 Mio. EUR. Am 31.12.01 sind die Arbeiten zu 80 % erledigt.

  • Die HGB-GuV weist aus dem Projekt aus: für 01 keinen Umsatz und Gewinn, für 02 einen Umsatz von 6 Mio. EUR und einen Gewinn von 1 Mio. EUR.
  • Die IFRS-GuV zeigt: einen Umsatz von 4,8 Mio. EUR (80 % von 6 Mio. EUR) und einen Gewinn von 0,8 Mio. EUR in 01, den Rest in 02.

Welche Handhabung mehr dem Gläubigerschutz dient, kann nicht pauschal beantwortet werden:

  • Kritiker der IFRS sehen bei einer Freigabe für den Einzelabschluss folgende Gefahr: Für 01 könnten 0,8 Mio. EUR ausgeschüttet, als Substanz dem Unternehmen entzogen werden. Sie stünden damit den Gläubigern nicht mehr zur Verfügung, falls das Unternehmen in 02 in die Insolvenz ginge.
  • Kritiker des HGB weisen auf den Informationsaspekt des Gläubigerschutzes hin: Die in der HGB-GuV abgebildeten Umsatz- und Gewinnzahlen für 01 und 02 stehen im Widerspruch zur tatsächlichen ökonomischen Entwicklung, deren Schwergewicht gerade in 01 liegt.

Ob die Informations- oder die Ausschüttungs-/Substanzperspektive des Gläubigerschutzes höher zu werten ist (vgl. Abb. 5), wäre eine empirische Frage. Jedenfalls bei großen Insolvenzen (gerade auch im Baubereich) spielt der Entzug von Haftungsmasse durch Ausschüttung unrealisierter Gewinne kaum eine ...

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