Rz. 79

Unversteuerte Rücklagen verkörpern rein steuerliche Wahlrechte (GoB-inkonforme Wahlrechte) und sind nach Ergehen des BilMoG, verbunden mit der Abschaffung der umgekehrten Maßgeblichkeit, analog zu den steuersubventionellen Abschreibungswahlrechten nicht in der Handelsbilanz nachzuvollziehen.[1] Innerhalb der Bilanz stellen unversteuerte Rücklagen einen Passivposten eigener Art dar. Der Grund hierfür liegt in ihrem bilanziellen Charakter, denn sie bilden einen Mischposten aus Eigen- und Fremdkapital und sind deshalb zwischen dem Eigenkapital und den Rückstellungen gesondert auszuweisen. Der Fremdkapitalanteil verkörpert eine Steuerrückstellung, da die unversteuerten Rücklagen – wie deren Bezeichnung bereits andeutet – (noch) nicht der Besteuerung unterlegen haben und insofern das Realisationsprinzip einschränken. Der Restbetrag stellt eine Rücklage und mithin Eigenkapital dar. Insofern ist die Bezeichnung einer unversteuerten Rücklage treffender als der im praktischen Sprachgebrauch verwendete Begriff der "steuerfreien Rücklage".[2]

Zu den in der Praxis wichtigsten Anwendungsbereichen unversteuerter Rücklagen zählen die Rücklage für Ersatzbeschaffung (R 6.6 EStR 2012), die Reinvestitionsrücklage (§ 6b EStG)[3] sowie die Rücklage für im Voraus gewährte Zuschüsse (R 6.5 Abs. 4 EStR 2012).

 

Rz. 80

Bei der Rücklage für Ersatzbeschaffung (R 6.6 EStR 2012) besteht das Wahlrecht zur Bildung einer unversteuerten Rücklage, wenn ein Wirtschaftsgut des Anlage- oder Umlaufvermögens entweder aufgrund höherer Gewalt – hierunter sind Elementarereignisse wie Brand, Sturm, Überschwemmung oder andere "unabwendbare Ereignisse" wie Diebstahl, Abriss eines Gebäudes aufgrund erheblicher Baumängel, die kurze Zeit nach Fertigstellung des Gebäudes auftreten, oder unverschuldete Unfälle zu verstehen (R 6.6 Abs. 2 Satz 1 EStR 2012) –[4] oder aufgrund der Vermeidung eines behördlichen Eingriffs[5] aus dem Betriebsvermögen ausscheidet respektive beschädigt wird und durch die Gewährung einer (höheren) Entschädigung stille Reserven aufgedeckt werden. Voraussetzung für eine Inanspruchnahme ist die Anschaffung oder Herstellung eines funktionsgleichen Wirtschaftsguts (Ersatzwirtschaftsgut), auf dessen Anschaffungs- oder Herstellungskosten die aufgedeckten stillen Reserven zu übertragen sind respektive die Reparatur des Wirtschaftsguts. Übt der Bilanzierende das Wahlrecht aus, wird die aufgedeckte und eigentlich zu besteuernde stille Reserve in eine unversteuerte Rücklage eingestellt, sofern im Jahr des Ausscheidens des Wirtschaftsguts keine Anschaffung oder Herstellung eines Ersatzwirtschaftsguts erfolgt, eine Ersatzbeschaffung jedoch ernsthaft geplant und zu erwarten ist (R 6.6 Abs. 4 Satz 1 EStR 2012). Entsprechendes gilt für eine anstehende Reparatur bei Beschädigung (R 6.6 Abs. 7 Satz 1 EStR 2012). Die Fristen belaufen sich bei beweglichen Wirtschaftsgütern auf 1 Jahr, bei Gebäuden und Grundstücken auf 4 Jahre und bei neu hergestellten Gebäuden (keine Reparatur!) auf 6 Jahre (R 6.6 Abs. 4 Sätze 3–4 und Abs. 7 Satz 3 EStR 2012). Die Verlängerung der Frist ist in Einzelfällen möglich (R 6.6 Abs. 4 Sätze 5–6 und Abs. 7 Satz 4 EStR 2012). Im Fall einer (teilweisen) Nichtübertragung hat eine gewinnerhöhende Auflösung der unversteuerten Rücklage zu erfolgen (R 6.6 Abs. 4 Satz 3 und Abs. 7 Satz 3 EStR 2012), wobei eine "Strafverzinsung" für die in Anspruch genommene Steuerstundung nicht vorgesehen ist.

 

Rz. 81

Die Reinvestitionsrücklage (§ 6b Abs. 3 und Abs. 10 Satz 5 EStG) offeriert das Wahlrecht, bei der Aufdeckung stiller Reserven im Kontext der Veräußerung bestimmter Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens eine unversteuerte Rücklage i. H. d. hierdurch aufgedeckten stillen Reserven in diesem Jahr zu bilden und jene auf die Anschaffungs- oder Herstellungskosten eines begünstigten Reinvestitionswirtschaftsguts in einem späteren Jahr zu übertragen. Vorausgesetzt wird eine mindestens 6-jährige Zugehörigkeit des veräußerten Wirtschaftsguts zum Betriebsvermögen desselben Betriebs oder verschiedener Betriebe desselben Steuerpflichtigen[6] sowie die Zugehörigkeit des Reinvestitionswirtschaftsguts zum Anlagevermögen einer inländischen Betriebstätte des Steuerpflichtigen (§ 6b Abs. 4 Satz 1 Nrn. 2, 3 EStG). Im Fall der Zugehörigkeit des Reinvestitionswirtschaftsguts zu einer innerhalb der EU/des EWR belegenen Betriebstätte besitzt der Steuerpflichtige aus Gründen der Wahrung der Niederlassungsfreiheit das Wahlrecht, die auf den Betrag der unversteuerten Rücklage entfallende Steuer in 5 gleichen Jahresraten unverzinslich zu tilgen (§ 6b Abs. 2a EStG). Ein Anspruch zur Minderung der Anschaffungskosten des Reinvestitionswirtschaftsguts besteht insofern nicht.[7] Begünstigte Veräußerungsobjekte sind abschließend[8] Grund und Boden (ohne Gebäude, Bodenschätze, Obst- und Baumschulanlagen, Rebanlagen, Spargelanlagen sowie Grundstücksrechte),[9] Aufwuchs auf Grund und Boden,[10] Gebäude sowie Binnenschiffe (§ 6b Abs. 1 Sätze 1–2 EStG). § 6b Abs. 10 EStG nimmt zus...

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