Leitsatz

1. Das Sonderausgabenabzugsverbot für Altersvorsorgeaufwendungen, die in unmittelbarem wirtschaftlichen Zusammenhang mit in der Schweiz erzielten und im Inland steuerlich freigestellten Einnahmen aus nichtselbständiger Arbeit stehen (§ 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Halbsatz 1 EStG), verstößt gegen die durch das Freizügigkeitsabkommen (FZA) gewährleisteten Grundsätze der Arbeitnehmerfreizügigkeit und Gleichbehandlung (Anschluss an das EuGH-Urteil Bechtel vom 22.6.2017 – C‐20/16, EU:C:2017:488, BStBl II 2017, 1271).

2. Die durch das Gesetz zur Vermeidung von Umsatzsteuerausfällen beim Handel mit Waren im Internet und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften vom 11.12.2018 (BGBl I 2018, 2338) rückwirkend eingefügte Ausnahme vom Abzugsverbot in § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Halbsatz 2 EStG ist zwar nicht vom Wortlaut, wohl aber im Wege unionsrechtskonformer Auslegung auch für Fälle einer nichtselbständigen Erwerbstätigkeit in der Schweiz anzuwenden. Dies gebietet der Grundsatz des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts, der sich auch auf den Inhalt des FZA erstreckt.

 

Normenkette

§ 10 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a, Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Halbsätze 1 und 2 EStG, Art. 16 Abs. 2 Satz 1, Art. 9 Abs. 1 und 2 Anhang I FZA, Art. 3 Abs. 1 GG

 

Sachverhalt

Der im Inland lebende Kläger ist als Arbeitnehmer eines inländischen Unternehmens in der DRV gesetzlich pflichtversichert. Er arbeitete im Streitjahr 2012 überwiegend auf Baustellen in der Schweiz. Sein auf diese Tätigkeit entfallender Arbeitslohn wurde in Deutschland aufgrund des DBA Schweiz unter Progressionsvorbehalt steuerlich freigestellt. Das FA berücksichtigte nur die auf den inländischen Arbeitslohn entfallenden Beiträge zur DRV als Sonderausgaben gemäß § 10 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a EStG. Dagegen versagte es den Abzug für diejenigen Beiträge, die auf den in der Schweiz erwirtschafteten Arbeitslohn entfielen. Diese stünden mit steuerfreien Einnahmen in unmittelbarem wirtschaftlichen Zusammenhang, sodass das Abzugsverbot nach § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG gelte. Das FG wies die Klage ab (FG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 23.1.2017, 5 K 1463/14, Haufe-Index 10874697, EFG 2017, 1078).

 

Entscheidung

Die Revision des Klägers führte aus den unter den Praxis-Hinweisen dargestellten Gründen zur Aufhebung des Urteils und zur Zurückverweisung. Die in § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Halbsatz 2 EStG enthaltene Rückausnahme vom Abzugsverbot sei zwar über ihren Wortlaut hinaus auch auf das Verhältnis zur Schweiz anwendbar. Wegen fehlender Feststellungen des FG konnte der BFH aber nicht beurteilen, ob bzw. in welchem Umfang die streitigen Vorsorgeaufwendungen in der Schweiz steuerlich berücksichtigt wurden bzw. hätten berücksichtigt werden können.

 

Hinweis

1. Die Versagung des Sonderausgabenabzugs für Altersvorsorgeaufwendungen, die im unmittelbaren Zusammenhang mit im Inland steuerfreien Einkünften stehen, hat bereits den EuGH beschäftigt. Dieser hatte in der Rs. Bechtel entschieden, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit verletzt wird, wenn Altersvorsorgeaufwendungen und Krankenversicherungsbeiträge von ­einem in einem EU- bzw. EWR-Staat tätigen, aber in Deutschland wohnenden Arbeitnehmer, dessen ­Arbeitslohn nach einem DBA von der inländischen Besteuerung freigestellt ist, steuerlich nicht berücksichtigt werden können. Die Weigerung, dem gebietsansässigen Steuerpflichtigen die Vergünstigungen aus der Berücksichtigung seiner persönlichen und familiären Situation in Form von Abzügen von Altersvorsorgebeiträgen als Sonderausgaben zu gewähren, könne weder durch Gründe einer ausgewogenen Aufteilung der Steuerhoheit noch durch die Wahrung der steuerlichen Kohärenz gerechtfertigt werden (EuGH, Urteil vom 22.6.2017 , C‐20/16, BFH/NV 2017, 1406, BStBl II 2017, 1271).

2. Als Reaktion auf dieses Urteil wurde 2018 § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG mit Wirkung für alle noch offenen Fälle entsprechend geändert. Nunmehr können gemäß § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Halbsatz 2 EStG Altersvorsorgeaufwendungen und bestimmte andere Versicherungsbeiträge im Fall eines unmittelbaren wirtschaftlichen Zusammenhangs mit steuerfreien Einnahmen als Sonderausgaben berücksichtigt werden, wenn

(a) sie in unmittelbarem wirtschaftlichen Zusammenhang mit in einem EU- bzw. EWR-Staat erzielten Einnahmen aus nichtselbstständiger Tätigkeit stehen,

(b) diese Einnahmen nach einem DBA im Inland steuerfrei sind und

(c) der Beschäftigungsstaat keinerlei steuerliche Berücksichtigung von Vorsorgeaufwendungen im Rahmen der Besteuerung dieser Einnahmen zulässt.

3. Nach ihrem Wortlaut ist diese Neuregelung zwar auf die Tätigkeit in Staaten der EU bzw. des EWR beschränkt und damit nicht auf Arbeitnehmer anzuwenden, die in der Schweiz tätig sind. Der sie belastende Ausschluss des Sonderausgabenabzugs nach § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Halbsätze 1 und 2 EStG stellt aber eine Verletzung des Rechts auf Arbeitnehmerfreizügigkeit und Gleichbehandlung gemäß Art. 45 AEUV i. V. m. Art. 1 Buchst. a, Art. 2, Art. 4 und Art. 7 Buchst. a des Freizügigkeitsabkommens mit der Schweiz (FZA) und ...

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