Leitsatz

1. Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem, wie es in den Art. 2 Abs. 1 und 2 der Ersten RL 67/227/EWG des Rats vom 11.04.1967 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die USt und den Art. 2, 10 Abs. 1 und 2 sowie 17Abs. 1 und 2 der 6. EG-RL definiert wurde, steht dem nicht entgegen, dass ein Mitgliedstaat vorübergehend das Recht auf Vorsteuerabzug von Steuerpflichtigen einschränkt, die bei der Aufzeichnung ihrer Verkäufe eine Formvorschrift verletzt haben, sofern die so vorgesehene Sanktion dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht.

2. Bestimmungen wie Art. 111 Abs. 1 und 2 des Gesetzes vom 11.03.2004 über die Steuer auf Waren und Dienstleistungen (ustawa o podatku od towarów i usług) sind keine "abweichenden Sondermaßnahmen" zur Verhinderung von Steuerhinterziehungen und -umgehungen i.S.v. Art. 27 Abs. 1 der 6. EG-RL.

3. Art. 33 der 6. EG-RL steht der Beibehaltung von Bestimmungen wie Art. 111 Abs. 1 und 2 des Gesetzes vom 11.03.2004 über die Steuer auf Waren und Dienstleistungen nicht entgegen.

 

Normenkette

Art. 22, Art. 27 der 6. EG-RL (§ 22 UStG, § 63 UStDV)

 

Sachverhalt

Da Profaktor der Pflicht zur Aufzeichnung ihres Umsatzes und der Mehrwertsteuerbeträge unter Verwendung von Registrierkassen nicht nachgekommen war, kürzte das FA die geltend gemachte Vorsteuer aus dem Erwerb von Gegenständen und Dienstleistungen um 30 %.

 

Entscheidung

1. Die Verpflichtung für Unternehmer, die an Endverbraucher leisten, eine Registrierkasse zu führen, ist mit dem Ziel, Steuerumgehungen und Missbrauch zu verhindern, vereinbar. Die Sanktion bei Verletzung der Pflicht – hier: Minderung des Vorsteuerabzugs um 30 % – soll mit der abschreckenden Wirkung die Durchsetzung dieser Verpflichtung gewährleisten.

Der EuGH entschied, es sei zwar Sache des vorlegenden Gerichts, zu überprüfen, ob die nationale Regelung mit den allgemeinen Grundsätzen vereinbar sei, wies aber darauf hin, dass die (nur) 30 % Vorsteuerkürzung weder ungeeignet noch überschießend sei. Da diese Sanktion zudem nicht bezwecke, Aufzeichnungsfehler zu heilen, sondern ihnen vorzubeugen, sei bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit ihr pauschaler Charakter (Anwendung eines fixen Prozentsatzes) und damit der fehlende Zusammenhang zwischen der Höhe der Sanktion und den Beträgen, die mit den möglicherweise vom Steuerpflichtigen begangenen Fehlern zusammenhängen, nicht zu berücksichtigen. Vielmehr verhindere gerade das Fehlen von Registrierkassen die genaue Ermittlung des Betrags der getätigten Verkäufe und stehe daher einer Beurteilung der Angemessenheit der Sanktion in Bezug auf die Höhe möglicher Aufzeichnungsfehler entgegen.

2. Von Bedeutung ist die Feststellung des EuGH, dass diese Sanktion keine "abweichende Sondermaßnahme" i.S.v. Art. 27 Abs. 1 der 6. EG-RL sei, sondern lediglich den in Art. 22 Abs. 8 der Sechsten Mehrwertsteuer-RL vorgesehenen Maßnahmen entspreche.

 

Hinweis

1. Nach Art. 22 der 6. EG-RL (vgl. § 22 UStG) muss jeder Steuerpflichtige Aufzeichnungen führen, die so ausführlich sind, dass sie die Anwendung der Mehrwertsteuer und die Überprüfung durch die Steuerverwaltung ermöglichen. Die Mitgliedstaaten können weitere Pflichten vorsehen, die sie als erforderlich erachten, um die genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und Steuerhinterziehungen zu vermeiden.

2. Eine Regelung in Polen sah vor, dass Einzelhändler verpflichtet sind, Umsätze und Steuerschuld unter Verwendung von Registrierkassen aufzuzeichnen. Bei Verletzung der Pflicht wurde die Vorsteuer um 30 % gekürzt. Eine vergleichbare Regelung enthält das UStG nicht. Die Entscheidung ist jedoch von Bedeutung, weil sie die Grenzen für Sanktionen bei Verletzung von Aufzeichnungspflichten konkretisiert. Fraglich war, ob diese Regelung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar sei, ob es sich ferner um eine Verwaltungssanktion oder um eine Sondermaßnahme i.S.v. Art. 27 der 6. EG-RL handle.

3. Das Recht auf Vorsteuerabzug darf zwar grundsätzlich nicht eingeschränkt werden. Die Mitgliedstaaten verfügen jedoch über einen gewissen Spielraum bei der Konkretisierung der Pflichten hinsichtlich der vom Steuerpflichtigen zu führenden Aufzeichnungen (Art. 22 Abs. 2 der 6. EG-RL = § 22 UStG). Nach Art. 22 Abs. 8 der 6. EG-RL können die Mitgliedstaaten "weitere Pflichten vorsehen, die sie als erforderlich ansehen, um die genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und Steuerhinterziehungen zu vermeiden". Mangels Vorgaben in der RL können sie die Sanktionen wählen, die ihnen sachgerecht erscheinen. Sie sind jedoch verpflichtet, dabei die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts zu beachten. Voraussetzung ist daher, dass die Sanktion das Unionsrecht beachtet und für das verfolgte Ziel nicht offensichtlich ungeeignet und nicht unverhältnismäßig ist. Dies zu beurteilen obliegt dem nationalen Gericht.

4. Stellt eine Sanktion die grundsätzliche Berechtigung zum Vorsteuerabzugs in ihrer Wirkung nicht infrage und hat sie (lediglich) den Charakter einer finanziellen Belastung, die der n...

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