Leitsatz

1. Gesetzliche Regelungen, die für künftige belastende Rechtsfolgen an zurückliegende Sachverhalte anknüpfen (sog. unechte Rückwirkung oder tatbestandliche Rückanknüpfung) sind nicht grundsätzlich unzulässig. Die unechte Rückwirkung ist mit den grundrechtlichen und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Vertrauensschutzes jedoch nur vereinbar, wenn sie zur Förderung des Gesetzeszwecks geeignet und erforderlich sind und wenn bei einer Gesamtwürdigung zwischen dem Gewicht des enttäuschten Vertrauens und dem Gewicht und der Dringlichkeit der die Rechtsänderung rechtfertigenden Gründe die Grenze der Zumutbarkeit gewahrt bleibt.

2. Die Verlängerung der früher sogenannten Spekulationsfrist bei der Veräußerung von Grundstücken durch § 23 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 i.V.m. § 52 Abs. 39 S. 1 EStG i.d.F. des Steuerentlastungsgesetzes 1999/­2000/2002 war mit belastenden Folgen einer unechten Rückwirkung verbunden, die zum Teil den Grundsätzen des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes widersprechen.

 

Normenkette

§ 2, § 22 Nr. 2, § 23 Abs. 1 Nr. 1, § 52 Abs. 39 EStG 1999

 

Sachverhalt

Das BVerfG hatte mehrere Vorlagen miteinander verbunden und einheitlich über sie entschieden. Es sind Vorlagen des BFH und des FG Köln. Folglich liegen dem Beschluss drei Sachverhalte zugrunde.

1. Im Verfahren 2 BvL 14/02 erwarben die Eheleute K im Jahr 1990 ein Grundstück für 60 000 DM und veräußerten einen Teil davon am 26.02.1999 für 560 000 DM. Das FA berechnete einen Veräußerungsgewinn von 448 502 DM. Die Klage führte zur Vorlage durch das FG Köln (EFG 2002, 1236 ff.).

2. Im Verfahren 2 BvL 2/04 erwarb K im Jahr 1990 ein Einfamilienhaus, das er zunächst vermietete. Ab 1997 wollte er verkaufen und fand unter Einschaltung eines Maklers schließlich einen Käufer, an den er das Haus am 22.04.1999 veräußerte. Das FA errechnete einen Gewinn. Die dagegen erhobene Klage führte zur Vorlage durch den BFH (Beschluss v. 16.12.2003, IX R 46/02, BFH/NV 2004, 412).

3. Im Verfahren 2 BvL 13/05 erwarb K im Jahr 1991 mit zwei weiteren Beteiligten in einer GbR einen Anspruch auf Rückübertragung eines in der ehemaligen DDR gelegenen Grundstücks. Im Jahr 1994 wurde die GbR als Eigentümerin in das Grundbuch eingetragen. Im Zug einer Teilungsversteigerung erwarb K das Grundstück am 18.02.1999 wiederum in einer GbR. Am 16.03.1999 veräußerte die GbR das Grundstück an einen Dritten. Das FA wertete das als privates Veräußerungsgeschäft und erfasste einen Veräußerungsgewinn in der Person des K. Die Klage führte zu der Vorlage des FG Köln (FG Köln, Beschluss vom 24.08.2005, 14 K 6187/04, Haufe-Index 1480230, DStRE 2007, 150 ff.).

 

Entscheidung

Das BVerfG sah die Vorlagen nach Art. 100 GG als zulässig und begründet an und beschloss: § 23 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 i.V.m. § 52 Abs. 39 S. 1 EStG i.d.F. des StEntlG 1999/2000/2002 v. 24.03.1999 verstößt gegen die verfassungsrechtlichen Grundsätze des Vertrauensschutzes und ist nichtig, soweit in einem Veräußerungsgewinn Wertsteigerungen steuerlich erfasst werden, die bis zur Verkündung des StEntlG 1999/2000/2002 am 31.03.1999 entstanden sind und nach der zuvor geltenden Rechtslage bis zum Zeitpunkt der Verkündung steuerfrei realisiert worden sind oder steuerfrei hätte realisiert werden können.

 

Hinweis

1. Dies ist die Leitentscheidung der drei Rückwirkungsbeschlüsse des BVerfG. Vergegenwärtigt man sich einen der Sachverhalte, der dem BVerfG vorgelegt wurde, wird die Problematik besonders anschaulich. Herr K erwarb 1990 ein mit einem Einfamilienhaus bebautes Grundstück für 400 000 EUR, das er in den folgenden Jahren vermietete. Ab 1997 wollte er es verkaufen und beauftragte einen Makler. Nachdem sich schließlich ein Käufer gefunden hatte, veräußerte K das Grundstück im April 1999 für 500 000 EUR. Das FA erfasste einen Gewinn von 200 000 EUR (als Differenz zwischen Anschaffungskosten und Verkaufspreis sowie die in Anspruch genommenen AfA-Beträge). Zu Recht?

2. Es leuchtet unmittelbar ein, dass sich hier die Rückwirkungsproblematik besonders scharf stellt. Das Grundstück des K war ja schon steuerlich "entstrickt". Hätte er es bereits 1997 verkauft, hätte er keinen Gewinn versteuern müssen. Kann ein Gesetz rückwirkend den "Entstrickungsvorgang" zunichte machen?

3. Die Antwort des BVerfG ist hoch differenziert – und sie befriedigt den Rechtsanwender. Zunächst werden die Rückwirkungsfälle danach unterschieden, ob die Norm "echte Rückwirkung" entfaltet und ihre Rechtsfolge mit belastender Wirkung schon vor dem Zeitpunkt ihrer Verkündung für bereits abgeschlossene Tatbestände gelten soll – oder ob die Rechtsfolgen der Vorschrift in "unechter Rückwirkung" erst nach ihrer Verkündung eintreten, tatbestandlich aber von einem bereits ins Werk gesetzten Sachverhalt ausgelöst werden.

4. Ist die echte Rückwirkung grundsätzlich unzulässig, so aber nicht die unechte ("tatbestandliche Rückanknüpfung"). Ein vollständiger Schutz zugunsten des Fortbestehens der bisherigen Rechtslage würde den dem Gemeinwohl verpflichteten Gesetzgeber in wichtigen Bereichen lähmen. Die ...

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