Die zuletzt behandelten Restrukturierungsrückstellungen haben in vielen Fällen tatsächlich den Charakter von Aufwandsrückstellungen und sind damit ein Systembruch. IAS 37 versucht diesen Systembruch zu überdecken. Durch die Bekanntgabe eines Restrukturierungsplans an die Betroffenen soll bei diesen eine Erwartungshaltung entstehen, die zu einer faktischen Verpflichtung führt. Wie dünn diese Argumentation ist, zeigt sich im Beispiel der Arbeitnehmerentlassung: Die Bekanntgabe der Betriebseinstellungspläne an den Betriebsrat mag zwar (negative) Erwartungen wecken. Wenn die Unternehmensleitung aber kurz darauf neue Aufträge akquiriert und deshalb die Stilllegungspläne einstampft, wird der Betriebsrat kaum vorbringen, er habe sich nun auf die Stilllegung eingestellt und deshalb müsse diese auch durchgezogen werden.

Über den Bereich der Restrukturierungsrückstellungen hinaus ist die Grenzziehung zwischen unbeachtlichen "Innenverpflichtungen" (in der handelsrechtlichen Begrifflichkeit: "Aufwandsrückstellungen") und zu passivierenden faktischen Außenverpflichtungen problematisch. IAS 37.10 formuliert folgende Anforderungen für das Vorliegen einer faktischen Verpflichtung (constructive obligation):

  • "Das Unternehmen (hat) durch sein bisher übliches Geschäftsgebaren, öffentlich angekündigte Maßnahmen oder eine ausreichend spezifische, aktuelle Aussage anderen Parteien gegenüber die Übernahme gewisser Verpflichtungen angedeutet …" und
  • "dadurch bei den anderen Parteien eine gerechtfertigte Erwartung geweckt, dass es diesen Verpflichtungen nachkommt."

Die verwendeten Definitionsmerkmale sind unscharf und machen die Passivierung häufig zu einer Ermessensentscheidung.

 

Beispiel

Ein Ölförderunternehmen überlegt, ob es eine größere Plattform in der Nordsee versenken oder umweltgerecht rückbauen soll. Eine gesetzliche Verpflichtung zum Rückbau besteht nicht.

Die Versenkung entspricht dem "bisher üblichen Geschäftsgebaren" des Unternehmens, jedenfalls dem, was es bei kleineren Plattformen oder in anderen Weltmeeren praktiziert hat.

Angesichts der Größe der Plattform werden die Umweltgefahren einer Versenkung in einigen Anrainerstaaten jedoch zu einem öffentlichen Thema. Das Unternehmen erklärt daraufhin Ende 01 durch seinen Pressesprecher, für einen umweltgerechten Rückbau sorgen zu wollen.

Ein Teil der Öffentlichkeit glaubt dem Unternehmen und hegt die "gerechtfertigte Erwartung" (valid expectation), dass entsprechend der Erklärung verfahren wird. Ein anderer Teil misstraut der Erklärung und lässt sich erst sehr viel später, als Mitte 02 tatsächlich mit dem umweltgerechten Rückbau begonnen wird, überzeugen. Ein dritter Teil hat keine Meinung. Worauf soll das Unternehmen in der Beurteilung einer Rückstellungspflicht per 31.12.01 abstellen?

Beurteilung

  • Das bisherige Geschäftsgebaren spricht gegen eine Rückstellung, die veröffentlichte Erklärung dafür.
  • Die Erklärung erzeugt allerdings keine eindeutige Erwartung bei der "anderen Partei". Die Öffentlichkeit, die hier als andere Partei infrage kommt, besteht tatsächlich aus vielen Teilen/Parteien. Reicht es aus, wenn eine "einfache Mehrheit" der Öffentlichkeit dem Unternehmen glaubt (Vernachlässigung der Personen ohne Meinung)? Oder ist eine absolute Mehrheit, eventuell sogar eine qualifizierte Mehrheit zu fordern? Ist auf die demoskopisch ermittelte öffentliche Meinung abzustellen oder kommt es eher auf die veröffentlichte Meinung an? Zählt nur die Meinung in den Anrainerstaaten oder auch die in entlegeneren Ländern?

Die Definition der faktischen Verpflichtung liefert eher Fragen als Antworten. Dies zeigt sich auch am geforderten Vergangenheitsbezug: Nach IAS 37.17 darf das Unternehmen "keine realistische Alternative zur Erfüllung der Verpflichtung" haben. Bei vertraglichen Verpflichtungen ist die Bedeutung dieses sog. Unentziehbarkeitskriteriums klar: die andere Partei hat einen Rechtsanspruch, den sie notfalls gerichtlich durchsetzen kann.

Bei faktischen Verpflichtungen fehlt es jedoch an derartigen Vollstreckungsmöglichkeiten. Im obigen Beispiel der Ölplattform, ebenso z. B. bei Gewährleistungen ohne rechtliche Verpflichtung, können deshalb nur wirtschaftliche Sanktionen dazu führen, dass das Unternehmen keine "realistische Alternative" zur Erfüllung der Verpflichtung hat. Diese Sanktionen können sich insbesondere aus Imagebeschädigungen ergeben. Erfüllt das Unternehmen ein ohne rechtliche Verpflichtung abgegebenes Leistungsversprechen nicht, können sein Ruf, seine Marke und damit auch sein zukünftiger Umsatz und Gewinn Schaden nehmen. Wie hoch muss aber ein derart erwarteter Schaden sein, um "keine realistische Alternative" zur Erfüllung der faktischen Verpflichtung zuzulassen? Reicht es unter Opportunitätskostengesichtspunkten aus, dass er höher ist als die Kosten der Erfüllung des Leistungsversprechens oder muss er deutlich höher sein? Wie soll der aus Ruf- und Imageschädigung resultierende Schaden überhaupt zuverlässig quantifiziert werden?

Ein Vergangenheitsbezug soll in diesem Kon...

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