3.1 Realisationsprinzip als Grundsatz der Erlösrealisierung

 

Rz. 60

Wie bereits unter Rz. 5 erwähnt, finden sich in der deutschen Rechnungslegung – im Gegensatz zur internationalen Rechnungslegung – keine differenzierten Regeln zur Abgrenzung und Erfassung von Umsatzerlösen aus Kundenverträgen. Dementsprechend muss die Abgrenzung und Erfassung von Umsatzerlösen aus Kundenverträgen den allgemeinen Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung, insbesondere dem für die Abgrenzung von "Gewinnen" maßgeblichen Realisationsprinzip folgen. Auch die Novellierung des Handelsrechts durch das Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz veränderte das Realisationsprinzip im Kernbereich nicht, wenngleich in einigen Spezialfällen der Gesetzgeber das Realisationsprinzip zum Teil deutlich relativierte (z. B. Bewertung der Vermögensgegenstände nach § 246 Abs. 2 Satz 2 HGB zu beizulegenden Zeitwerten nach § 253 Abs. 1 Satz 4 HGB, Bewertung der kurzfristigen Fremdwährungsposten zum Devisenkassamittelkurs am Abschlussstichtag nach § 256a HGB, ertragswirksame Erfassung von Zeitwertänderungen der in einer Bewertungseinheit zusammengefassten Grund- und Sicherungsgeschäfte bei Anwendung der Durchbuchungsmethode[1]).

Demgegenüber hat sich die Gesetzesbegründung zum BilMoG klar gegen die Anwendung der Percentage-of-Completion-Methode bei langfristiger Auftragsfertigung und somit für die uneingeschränkte Beibehaltung des Realisationsprinzips in diesem Bereich ausgesprochen.[2] Dennoch mehren sich inzwischen deutlich die Stimmen im handelsrechtlichen Schrifttum, die bei langfristiger Auftragsfertigung unter bestimmten Voraussetzungen eine anteilige Gewinnrealisierung zulassen wollen (Rz. 79).

Nach § 252 Abs. 1 Nr. 4 2. Halbsatz HGB sind Gewinne nur zu berücksichtigen, wenn sie am Abschlussstichtag realisiert sind. Nach der im Schrifttum überwiegend vertretenen Meinung sind "Gewinne" i. S. d. Vorschrift als Erträge und nicht als Gewinne im Sinne eines Überhangs der Erträge über die Aufwendungen zu interpretieren.[3]

 

Rz. 61

Der Norm des § 252 Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 2 HGB ist jedoch nicht zu entnehmen, zu welchem Zeitpunkt ein Ertrag als realisiert gilt. Im Einzelnen finden sich im Schrifttum die nachstehend aufgeführten "möglichen" Realisierungszeitpunkte, deren Wahl mit dem Ausschluss jeweils korrespondierender Risiken des Absatzprozesses verbunden ist.[4]

 
Alternative Umsatzrealisierungszeitpunkte Ausschluss von Risiken des Absatzprozesses Verbleibende Risiken des Absatzprozesses
Zeitpunkt des Vertragsabschlusses Keine Beschaffungs-, Produktions-, Absatzrisiko, Delkredere-, Leistungsverzugs-, Gewährleistungs- und Haftungsrisiko
Zeitpunkt der Lieferung und Leistung Beschaffungs-, Produktions-, Absatzrisiko Delkredere-, Leistungsverzugs-, Gewährleistungs- und Haftungsrisiko
Zeitpunkt des Zahlungseingangs der veräußerten Güter/Dienstleistungen Beschaffungs-, Produktions-, Absatzrisiko, Delkredere- und Leistungsverzugsrisiko Gewährleistungs- und Haftungsrisiko
Zeitpunkt des Ablaufs der Gewährleistungsfrist Beschaffungs-, Produktions-, Absatzrisiko, Delkredere-, Leistungsverzugs- und Gewährleistungsrisiko Haftungsrisiko

Tab. 9: Alternative Umsatzrealisierungszeitpunkte und deren Auswirkung auf die Risikoposition des Unternehmens

Der in der Buchhaltungspraxis aus pragmatischen Gründen häufig verwendete "Zeitpunkt der Rechnungsstellung" ist abzulehnen, da dieser Zeitpunkt unbestimmt ist, nicht an den Stufen des Absatzprozesses anknüpft und vom Bilanzierenden willkürlich festgelegt werden kann (z. B. Vorausrechnung über eine noch nicht gelieferte Ware).[5]

Sofern der Prozess der Rechnungserstellung an die Erbringung der Leistung anknüpft, ist ein Anknüpfen der Umsatzrealisierung an die Rechnungserteilung grundsätzlich nicht zu beanstanden. Dies schließt insbesondere "Vorausrechnungen" aus, denen noch keine Leistungen zugrunde liegen.[6] Dennoch wird sich auch in diesem Fall eine genauere Analyse der erfolgten Rechnungen um den Bilanzstichtag empfehlen.[7]

Ebenso abzulehnen ist als Umsatzrealisierungszeitpunkt der Tag der Fertigstellung der Produktion und/oder der Aufnahme in das Lager[8]. Zwar sind in diesem Falle das Beschaffungs- und das Produktionsrisiko ausgeschlossen; jedoch fehlt diesem möglichen Realisierungszeitpunkt jeglicher Bezug zum Absatz- bzw. Umsatzprozess.

 

Rz. 62

Im handelsrechtlichen Schrifttum hat sich die h. M. herausgebildet, dass die Realisierung von Umsätzen (aus Kundenverträgen) zu dem Zeitpunkt vorgenommen werden sollte, zu dem die Lieferung und Leistung erfolgt ist und der Unternehmer den Anspruch auf Gegenleistung erworben hat.[9] Sofern der Unternehmer die Ware an einen Spediteur übergibt, so ist auf den Zeitpunkt abzustellen, zu dem das Preisrisiko und das Risiko des zufälligen Untergangs auf den Kunden übergehen.[10] Einer physischen Übergabe des auf den Kunden zu übertragenden Vermögensgegenstandes bedarf es nicht, wenn ein Besitzkonstitut (Eigentumsübergang aufgrund einer Einigung, dass der Erwerber mittelbaren Besitz erlangt)[11] vereinbart wird.[12] Da bei der Wahl des Zeitpunkts der Lieferung u...

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