Leitsatz

1. Ein Steuerbescheid darf wegen nachträglich bekannt gewordener Tatsachen oder Beweismittel zugunsten des Steuerpflichtigen nicht aufgehoben oder geändert werden, wenn das FA bei ursprünglicher Kenntnis der Tatsachen oder Beweismittel mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht anders entschieden hätte.

2. Maßgebend für diese Kausalitätsprüfung ist grundsätzlich der Zeitpunkt, in dem die Willensbildung des FA über die Steuerfestsetzung abgeschlossen wird.

3. Wie das FA bei Kenntnis bestimmter Tatsachen und Beweismittel einen Sachverhalt in seinem ursprünglichen Bescheid gewürdigt hätte, ist im Einzelfall aufgrund des Gesetzes, wie es nach der damaligen Rechtsprechung des BFH ausgelegt wurde, und den die FÄ bindenden Verwaltungsanweisungen zu beurteilen.

4. Liegen unmittelbar zu der umstrittenen Rechtslage weder Rechtsprechung des BFH noch bindende Verwaltungsanweisungen vor, so ist aufgrund anderer objektiver Umstände abzuschätzen, wie das FA in Kenntnis des vollständigen Sachverhalts entschieden hätte. Dabei sind das mutmaßliche Verhalten des einzelnen Sachbearbeiters und seine individuellen Rechtskenntnisse ohne Bedeutung.

 

Normenkette

§ 173 Abs. 1 Nr. 2 AO

 

Sachverhalt

Der bei A nicht selbstständig beschäftigte K erwarb Ansprüche auf betriebliche Altersvorsorge. Die Zusatzversorgungskasse von A wechselte zu B. A hatte zum Ausgleich an die übernehmende Versorgungskasse einen jährlichen als Arbeitslohn des K behandelten und dem LSt-Abzug unterworfenen Nachteilsausgleich gezahlt. Diese Zahlung war in den in Ks LSt-Bescheinigungen ausgewiesenen Bruttolöhnen enthalten und ging in die ESt-Festsetzungen der Streitjahre 2001–2003 ein.

Davon erfuhr K von A am 15.03.2006. A teilte mit, laut BFH (BFH, Urteil vom 14.09.2005, VI R 148/98, BFH/NV 2005, 2300, BFH/PR 2006, 19) sei die Versteuerung fehlerhaft. Darauf beantragte K beim FA erfolglos, seine bestandskräftigen ESt-Festsetzungen nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO zu ändern und die unrichtige Besteuerung des Nachteilsausgleichs rückgängig zu machen. Die Klage war erfolgreich (FG Düsseldorf, Urteil vom 22.08.2008, 11 K 580/07 E, Haufe-Index 2056801, EFG 2008, 1926).

 

Entscheidung

Der BFH hob die Vorentscheidung auf und wies die Klage aus den im Praxis-Hinweisen erläuterten Erwägungen ab.

 

Hinweis

Die (alte) Grundfrage des Besprechungsurteils lautet: ist der bestandskräftige Steuerbescheid aufgrund neu bekannt gewordener Tatsachen zu ändern? Das entscheidet sich nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO anhand der hypothetischen und ebenfalls altbekannten Frage: wie hätte das FA bei rechtzeitiger Tatsachenkenntnis veranlagt? Die Besonderheit des Streitfalls war, dass die Rechtsauffassung der Finanzverwaltung der später geäußerten Auffassung des BFH (Urteil vom 14.09.2005, VI R 148/98, BFH/NV 2005, 2300, BFH/PR 2006, 19) widersprach. Das Besprechungsurteil beantwortet die damit aufgeworfene Frage, welcher Rechtsmaßstab (Verwaltung oder bessere, aber spätere Erkenntnis des BFH) für die hypothetische Veranlagung gilt.

1. Seit dem Großen Senat des BFH (Beschluss vom 23.11.1987, GrS 1/86, Haufe-Index 61520, BStBl II 1988, 180) folgt aus § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO: Ein Steuerbescheid darf wegen nachträglich bekannt gewordener Tatsachen oder Beweismittel zugunsten des Steuerpflichtigen nur aufgehoben oder geändert werden, wenn das FA bei ursprünglicher Kenntnis mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit anders entschieden hätte; eine Änderung scheidet aus, wenn das FA auch bei rechtzeitiger Kenntnis mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu keiner anderen Steuer gelangt wäre. Unter Einbeziehung der nachträglich bekannt gewordenen neuen Tatsache ist die hypothetische Veranlagung durchzuführen, und zwar bezogen auf den damaligen Zeitpunkt der Steuerfestsetzung (Zeichnung des Eingabewertbogens, Verfügung zum Steuerbescheid) und unter Anwendung der damaligen Rechtslage (Rechtsprechung des BFH und bindende Verwaltungsanweisungen).

2. Und wenn Rechtsprechung und Verwaltungsanweisungen fehlen? Dann sind das Vorgehen der Finanzbehörden in Parallelverfahren oder auch interne Schreiben und Mitteilungen heranzuziehen. Unerheblich ist das mutmaßliche individuelle Verhalten des konkreten Sachbearbeiters, insbesondere dessen mögliche subjektive Fehler. Der BFH folgte nicht der – gegenteiligen – Auffassung des FG, das die idealtypischen individuellen Rechtskenntnisse statt die in den Streitjahren herrschende Verwaltungsauffassung als damalige Rechtslage herangezogen hatte.

3. Damit vollzog der BFH die mutmaßliche Veranlagung des FA auf Grundlage der damaligen Auffassung der Finanzverwaltung und nicht auf der seiner eigenen, aber erst nach dem Veranlagungszeitpunkt geäußerten gegenteiligen Rechtsauffassung (BFH, Urteil vom 14.09.2005, VI R 148/98, BFH/NV 2005, 2300, BFH/PR 2006, 19) nach. Deshalb hätte das FA auch bei Kenntnis der Sonderzahlung K nicht anders zur ESt veranlagt. Denn die Verwaltung beurteilte damals Sonderzahlungen als steuerpflichtigen Arbeitslohn, sie führte schließlich das – al...

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