Leitsatz

Verliert ein nicht freizügigkeitsberechtigter Ausländer einen zum Bezug von Kindergeld berechtigenden Aufenthaltstitel, weil sich sein Aufenthaltsstatus aufgrund seiner Eheschließung mit einer Angehörigen des zivilen Gefolges der NATO-Truppen nunmehr nach dem NATO-Truppenstatut richtet, so ist er dennoch aufgrund einer analogen Anwendung des § 62 Abs. 2 EStG kindergeldberechtigt.

 

Normenkette

§ 62 Abs. 2, § 1 Abs. 1 und 3 EStG, § 2 Abs. 1, § 8 AO, § 15 AuslG 1990, § 7, § 101 Abs. 1 und 2 AufenthG, Art. III Abs. 1 NATOTrStat, Art. 13 Abs. 1 Satz 1 NATOTrStatZABk

 

Sachverhalt

Der Kläger ist US-amerikanischer Staatsbürger, lebt seit seiner frühen Kindheit in Deutschland und war zuletzt im Besitz einer befristeten Aufenthaltserlaubnis nach §§ 15ff. AuslG 1990; zuvor hatte er eine unbefristete und unbeschränkte Arbeitserlaubnis erhalten. Seit 1990 ist er bei einem deutschen Arbeitgeber sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Er wurde vom Finanzamt als unbeschränkt steuerpflichtig nach § 1 Abs. 3 EStG behandelt. Nach seiner Heirat mit einer amerikanischen Staatsangehörigen, die zum zivilen Gefolge der US-Streitkräfte gehört, wurde in seinen Reisepass der Stempel "Status of Forces Agreement Identification" (SoFA-Stempel) aufgenommen. Nach einer entsprechenden Aufforderung gab der Kläger seine Aufenthaltserlaubnis zurück.

Den Antrag auf Kindergeld für seine im November 2007 geborene Tochter lehnte die Familienkasse ab, weil der Kläger die Voraussetzungen des § 62 Abs. 2 EStG nicht erfülle.

Das FG Rheinland-Pfalz gab der anschließend erhobenen Klage statt (Urteil vom 9.8.2011, 3 K 2299/10, Haufe-Index 2970539, EFG 2012, 1365).

 

Entscheidung

Der BFH bestätigte das FG-Urteil und wies die Revision der Familienkasse als unbegründet zurück.

 

Hinweis

1. Wer keinen inländischen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hat, aber nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt steuerpflichtig behandelt wird, ist nach § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b EStG persönlich anspruchsberechtigt. Dabei ist die steuerliche Behandlung durch das FA bindend. Der BFH konnte daher offen lassen, ob der im Inland wohnende Kläger, der aufgrund des NATO-Truppenstatuts im Rechtssinne keinen inländischen Wohnsitz i.S.v. § 8 AO hatte, trotzdem auch nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG berechtigt war.

2.§ 62 Abs. 2 EStG macht den Kindergeldanspruch nicht freizügigkeitsberechtigter Ausländer davon abhängig, dass diese über einen in der Vorschrift genannten ("starken") Aufenthaltstitel verfügen. Die wortgleiche Regelung des § 1 Abs. 6 Nr. 3 Buchst. b BErzGG ist wegen Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG nichtig (BVerfG-Beschluss vom 10.7.2012, 1 BvL 2-4/10, 3/11, BGBl I 2012, 1898). Der BFH wendet § 62 Abs. 2 EStG indessen weiterhin an, weil das Kindergeld im Gegensatz zum Erziehungsgeld als Einkommen auf die Sozialleistungen angerechnet wird und eine Ausweitung der Kindergeldberechtigung nicht freizügigkeitsberechtigten Ausländern, die ihren Unterhalt regelmäßig mit Sozialleistungen nach dem SGB II bestreiten, keine finanziellen Vorteile brächte.

3. Nicht freizügigkeitsberechtigte Ausländer, die die Voraussetzungen des § 62 Abs. 2 EStG nicht erfüllen, obwohl sie in den deutschen Arbeitsmarkt integriert sind, erhalten gleichwohl Kindergeld: So hat der BFH z.B. den Bezug von "Meister-BAföG" nach vorangegangener berechtigter Erwerbstätigkeit als rechtlich gleichwertig mit dem Erhalt von Geldleistungen nach dem SGB III behandelt (BFH, Urteil vom 4.8.2011, III R 62/09, BFH/NV 2011, 2154, BFH/PR 2011, 11) und Botschaftsangehörigen mit einem vom Auswärtigen Amt ausgestellten "gelben Ausweis", die hinsichtlich der Sozialversicherungs- sowie der Einkommensteuerpflicht als ständig ansässig behandelt worden waren, Kindergeld zugesprochen (BFH, Urteil vom 25.7.2007, III R 55/02, BFH/NV 2007, 2404, BFH/PR 2008, 64).

4. Der BFH half auch im vorliegenden Fall, indem er dem Kläger, der seit 1990 sozialversicherungspflichtig beschäftigt war und seine Aufenthaltserlaubnis infolge Heirat mit einer Angehörigen der US-Streitkräfte verlor, im Wege der Analogie wie den Inhaber eines hinreichenden Aufenthaltstitels behandelte. Denn der Kläger könnte, sobald er (z.B. wegen Arbeitgeberwechsels seiner Ehefrau) nicht mehr dem NATOTrStat unterliegt, wieder einen zum Daueraufenthalt berechtigenden Titel beanspruchen, der ihm einen Anspruch auf Kindergeld verschaffen würde. In einem derartigen Fall ist eine Ausnahme von dem Grundsatz geboten, dass es für die Anspruchsberechtigung nach § 62 Abs. 2 EStG auf den "Besitz" eines Aufenthaltstitels ankommt und nicht darauf, ob dieser beansprucht werden kann.

5. Der Kindergeldanspruch ist nicht nach Art. 13 Abs. 1 Satz 1 NATOTrStatZAbk ausgeschlossen.

 

Link zur Entscheidung

BFH, Urteil vom 8.8.2013 – III R 22/12

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