Leitsatz

1. Das Bestehen einer ungewissen Verbindlichkeit ist wahrscheinlich, wenn nach den am Bilanzstichtag objektiv gegebenen und bis zur Aufstellung der Bilanz subjektiv erkennbaren Verhältnissen mehr Gründe dafür als dagegen sprechen. Ein gegen eine dritte Person in einer vergleichbaren Sache ergangenes erstinstanzliches Urteil genügt für sich allein noch nicht, um für das Bestehen einer entsprechenden Verbindlichkeit überwiegende Gründe annehmen zu können.

2. Eine Inanspruchnahme ist wahrscheinlich, wenn der Steuerpflichtige ernstlich damit rechnen musste, aus der Verpflichtung in Anspruch genommen zu werden. Er darf im Hinblick auf seine Inanspruchnahme nicht die pessimistischste Alternative wählen; auch für die Inanspruchnahme müssen mehr Gründe dafür als dagegen sprechen.

3. Als "wertaufhellend" sind nur die Umstände zu berücksichtigen, die zum Bilanzstichtag bereits objektiv vorlagen und nach dem Bilanzstichtag, aber vor dem Tag der Bilanzerstellung lediglich bekannt oder erkennbar wurden. Der zu beurteilende Kenntnisstand zum Zeitpunkt der Bilanzerstellung ist daher auf die am Bilanzstichtag – objektiv – bestehenden Verhältnisse zu beziehen (Anschluss an BFH-Urteil vom 30.1.2002, I R 68/00, BFH-PR 2002, 216).

 

Normenkette

§ 5 Abs. 1 EStG, § 249 Abs. 1 HGB

 

Sachverhalt

Der Kläger ist Facharzt für Labormedizin und ermittelt seinen Gewinn durch Betriebsvermögensvergleich. Für ihn bestimmte Laborproben wurden zum Teil von einem Transportdienst befördert, den eine ärztliche Laborgemeinschaft, die im gleichen Gebäude ihre Praxis betrieb, beauftragt hatte. Auch für diese Proben rechnete der Kläger die Versandkostenpauschale ab.

Da das SG Mainz im Jahr 1997 in einem vergleichbaren Fall entschieden hatte, dass die Versandkostenpauschale nicht abrechenbar sei, bildete der Kläger wegen der möglichen Rückforderung dieser Gebühren durch die Kassenärztliche Vereinigung zum 31.12.1996 eine Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten. Das FA lehnte die Bildung der Rückstellung wegen nicht ausreichender Gefahr der Inanspruchnahme ab. Das FG wies die Klage ab (EFG 2003, 1152).

 

Entscheidung

Der BFH wies die Revision als unbegründet zurück. Die Voraussetzungen für die Bildung einer Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten seien mangels ausreichender Wahrscheinlichkeit einer Inanspruchnahme des Klägers nicht erfüllt.

 

Hinweis

1. Nach ständiger Rechtsprechung des BFH (vgl. BFH, Urteil 25.3.2004, IV R 35/02, BFH-PR 2004, 381) müssen für die Bildung einer Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten die folgenden Voraussetzungen gegeben sein:

  • Es muss sich um eine betrieblich veranlasste und in der Vergangenheit wirtschaftlich verursachte, aber dem Grund und/oder der Höhe nach ungewisse Verbindlichkeit gegenüber einem Dritten handeln;
  • es muss hinreichend wahrscheinlich sein, dass die Verbindlichkeit besteht oder entstehen wird;
  • der Steuerpflichtige muss ernsthaft damit rechnen, aus der Verbindlichkeit in Anspruch genommen zu werden.

2. Im Besprechungsfall ging es um die Pflicht zur Rückzahlung geltend gemachter Versandkostenpauschalen für Laborproben an die Kassenärztliche Vereinigung (KV). Der BFH sah hier die Bildung einer Verbindlichkeitsrückstellung aus zwei – unabhängig voneinander bestehenden – Gründen nicht für zulässig an. Zum einen ging er davon aus, dass das Bestehen der Rückzahlungsverpflichtung noch nicht hinreichend wahrscheinlich war. Zum anderen sah der BFH keine Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger ernstlich mit einer Inanspruchnahme zum Bilanzstichtag habe rechnen müssen.

3. Das Bestehen der Rückzahlungsverpflichtung ist erst dann hinreichend wahrscheinlich, wenn nach den am Bilanzstichtag objektiv gegebenen und bis zur Bilanzaufstellung subjektiv erkennbaren Verhältnissen mehr Gründe für als gegen das Bestehen dieser Verbindlichkeit sprechen. Das war hier nicht der Fall. Hier bestand lediglich wegen des Urteils des SG Mainz in einem vergleichbaren Fall die Möglichkeit des Bestehens einer Rückzahlungspflicht ("latente Rückforderungssituation"). Dafür, dass die KV dieses Urteil zum Anlass nehmen würde, auch vom Kläger die Rückzahlung der Versandkostenpauschale zu verlangen, gab es keinerlei Anhaltspunkte. Von einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit für eine Inanspruchnahme konnte deshalb auch noch keine Rede sein. Das gilt erst recht für eine Inanspruchnahme zum Bilanzstichtag; denn am 31.12.1996 war noch nicht einmal das Urteil des SG Mainz "in der Welt".

 

Link zur Entscheidung

BFH, Urteil vom 19.10.2005, XI R 64/04

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