Leitsatz

Die Regelung des § 70 Abs. 3 Satz 1 EStG, nach der materielle Fehler der letzten Kindergeldfestsetzung durch Neufestsetzung oder durch Aufhebung der Festsetzung beseitigt werden können, räumt der Familienkasse kein Ermessen ein, sondern regelt die Aufhebung oder Neufestsetzung als gebundene Entscheidung (Bestätigung von Tz. V 21.1 Abs. 1 Satz 2 der Dienstanweisung zum Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz vom 13. Juli 2017, BStBl I 2017, 1006).

 

Normenkette

§ 70 Abs. 3 EStG

 

Sachverhalt

Die Beigeladene ist Mutter eines Sohnes (S), bei dem ein Arzt nach Vollendung des 25. Lebensjahres eine von Drogenmissbrauch begleitete psychische Erkrankung attestiert hatte, bei deren Chronifizierung durch weiteren Substanzkonsum eine seelische Behinderung eintreten könne. S wurde daraufhin vollstationär untergebracht.

Die Familienkasse bewilligte der Beigeladenen im Juli 2013 Kindergeld für den bereits 25-jährigen S wegen dessen Behinderung und verfügte dessen Abzweigung an den Kläger. Am 28.1.2014 hob sie die Kindergeldfestsetzung und die Abzweigung mit Wirkung ab Februar 2014 auf, weil die Behinderung nicht vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten sei. Dabei stützte sie sich mangels geänderter Sachlage auf § 70 Abs. 3 EStG. In der Einspruchsentscheidung vom 26.8.2014 führte sie aus, dass ihr im Rahmen des § 70 Abs. 3 EStG kein Ermessensspielraum zustehe.

Die Klage hatte Erfolg, soweit die Weitergewährung und Abzweigung des Kindergeldes bis August 2014 begehrt wurde (Sächsisches FG, Urteil vom 17.10.2016, 6 K 1307/14 [Kg], Haufe-Index 10034435). Das FG entschied, § 70 Abs. 3 EStG sei eine Ermessensvorschrift, die Familienkasse habe aber keine Ermessenserwägungen angestellt. Hinsichtlich der Weitergewährung des Kindergeldes ab September 2014 wies es die Klage mangels einer belastenden Verwaltungsentscheidung als unzulässig ab.

 

Entscheidung

Die Revision der Familienkasse führte zur Aufhebung des FG-Urteils und zur Zurückverweisung der Sache. Im zweiten Rechtsgang ist zu prüfen, ob die letzte Festsetzung tatsächlich materiell fehlerhaft war.

 

Hinweis

1. Materielle Fehler der letzten Kindergeldfestsetzung "können" mit Wirkung ab dem auf die Bekanntgabe der Neufestsetzung oder der Aufhebung der Festsetzung folgenden Monat durch Neufestsetzung oder durch Aufhebung der Festsetzung beseitigt werden. Ob dadurch Ermessen eingeräumt wird, war in der Rechtsprechung und Literatur streitig.

2. Nach dem Besprechungsurteil besteht kein Ermessen. Der Begriff "können" räumt ein sog. "Kompetenz-Kann" ein; "können" bezeichnet lediglich die beiden Änderungsmöglichkeiten der Neufestsetzung oder Aufhebung. Zur Begründung verweist der BFH auf die Gesetzesmaterialien, danach "muss vermieden werden", dass Familienkassen "über einen Zeitraum von vielen Jahren an eine als fehlerhaft erkannte Kindergeldfestsetzung gebunden bleiben". Zudem lasse § 70 Abs. 3 EStG keine Kriterien erkennen, unter welchen Umständen von einer möglichen Änderung der Festsetzung abgesehen werden kann. Ein Ermessensspielraum sei auch nicht aus Gründen des Vertrauensschutzes erforderlich. Für die Familienkasse bedeutet "können" daher "müssen".

3. Was sind die Konsequenzen des Urteils?

  • Die Familienkasse hat keinen Ermessens- oder Verhandlungsspielraum, von einer nachteiligen Entscheidung abzusehen. Da die materiell fehlerhafte Festsetzung zwingend ab dem folgenden Monat geändert oder aufgehoben wird, bleibt dem Berechtigten allenfalls, das Verfahren um einen oder zwei Monate in die Länge zu ziehen.
  • Mangels Ermessens ist eine Änderung oder Aufhebung der Kindergeldfestsetzung nicht rechtswidrig, weil keine Ermessenserwägungen angestellt wurden.
 

Link zur Entscheidung

BFH, Urteil vom 21.2.2018 – III R 14/17

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