Zusammenfassung

 
Überblick

Ist nach den gesetzlichen Vorschriften über die Gewinnermittlung die spätere Versteuerung der stillen Reserven nicht sichergestellt, so können diese stillen Reserven in bestimmten Fällen – abweichend von allgemeinen Realisationstatbeständen wie Verkauf, Tausch oder (verdeckte) Einlage – schon zu einem früheren Zeitpunkt besteuert werden. Dies gilt insbesondere, wenn in einem grenzüberschreitenden Besteuerungsfall durch entweder einen tatsächlichen Akt (wie den Wegzug) oder rechtlichen Akt (z. B. einer Umwandlung) das inländische Besteuerungsrecht für in der Vergangenheit gebildete stille Reserven droht entweder wegzufallen oder zumindest eingeschränkt zu werden.

Für diese Besteuerungsvorgänge hat sich allgemein der Oberbegriff der "Steuerentstrickung" herausgebildet.

Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass es im deutschen Steuerrecht keinen allgemeinen Grundsatz über die Aufdeckung der stillen Reserven gibt, wenn ein Wirtschaftsgut nicht mehr in die Gewinnermittlung einzubeziehen ist. Ein Steuerentstrickungstatbestand kann aber nicht im Wege der Gesetzes- oder Rechtsanalogie geschaffen werden.

Es handelt sich aber bei der Frage der Steuerentstrickung und der korrespondierenden Steuerverstrickung um keine rein nationale Regelung, da die Richtlinie (EU) 2016/1164 des Rates v. 12.7.2016 mit Vorschriften zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts (ATAD-RL, ABl. EU 2016, L 193/1) die Mitgliedstaaten verpflichtet, ihre nationalen Regelungen an die ATAD-RL anzupassen, sofern die nationalen Regelungen kein höheres Maß an Schutz der inländischen Körperschaftsteuerbemessungsgrundlage gewährleisten (Art. 11 i. V. m. Art. 3 der ATAD-RL). Insoweit handelt es sich um einen Mindeststandard.

Erforderliche Anpassungen an Art. 5 der ATAD-RL, der die Besteuerung der Übertragung von Vermögenswerten und die Wegzugsbesteuerung regelt, wären eigentlich nach Art. 11 Abs. 5 der ATAD zeitnach durch die Mitgliedstaaten umzusetzen und spätestens ab 1.1.2020 anzuwenden gewesen.

Ungeachtet dieser Vorgaben hat der deutsche Gesetzgeber erst mit der Verabschiedung des ATAD UmsG 2021 die notwendige Umsetzung vorgenommen. Aufgrund der Anwendung der Neuregelungen erst ab 2022 (Grundsatz, vgl. aber § 21 Abs. 3 AStG 2021) werden nachfolgend sowohl die Regelungen bis 2021 als auch die Neuregelungen dargestellt.

Die wichtigsten Fallgruppen der einzelgesetzlich geregelten Steuerentstrickung sind:

  • Überführung von Wirtschaftsgütern (§§ 4 Abs. 1 S. 3 ff. EStG, 4g EStG, § 12 KStG)[1]
  • Wohnsitzwechsel des Gesellschafters einer Kapitalgesellschaft ins Ausland (§ 6 AStG) bzw. Wegzug eines Betriebs (fingierte Betriebsaufgabe bei Betriebs- und Teilbetriebsverlagerung ins Ausland § 16 Abs. 3a EStG)[2]
  • grenzüberschreitende Schenkung/Vererbung etc. von Beteiligungen im Privatvermögen (§ 6 AStG)[3]
  • grenzüberschreitende Umwandlung (nur Kurzhinweise zur Abgrenzung, UmwStG)[4]

    Ein Sonderfall ist die so genannte passive Entstrickung aufgrund erstmaliger Anwendung eines Abkommens zur Vermeidung der Doppelbesteuerung (DBA)

  • [5]

Gemeinsames auslösendes Tatbestandsmerkmal ist der Ausschluss oder die Beschränkung des deutschen Besteuerungsrechts.

 
Gesetze, Vorschriften und Rechtsprechung

Die gesetzlichen Regelungen finden sich in §§ 4, 4g, 6 Abs. 1 Nr. 5a, 16 Abs. 3a, 17, 36 Abs. 5, 49, 50i EStG, § 12 KStG, im UmwStG und in § 6 AStG nebst zeitlicher Anwendungsregelung in § 21 AStG.

Die Rechtsprechung hat sich bisher vorrangig sowohl mit der Frage der verfassungs- und europarechtlichen Zulässigkeit der deutschen Konzeption der Sofortbesteuerung als auch Fragen der Wegzugsbesteuerung nach § 6 AStG beschäftigt.[6]

[1] Erläuterung unter Tz. 1.
[3] Vgl. Tz. 4.
[4] Erläuterung unter Tz. 1.5d.
[5] Erläuterung unter Tz. 4.2.5.

1 Steuerentstrickung im Betriebsvermögen

1.1 Sachlicher und persönlicher Anwendungsbereich

Den Hauptfall einer Überführung von Wirtschaftsgütern findet man in der Praxis bei

  • der Lieferung sowohl von Wirtschaftsgütern des Anlage- als auch des Umlaufvermögens zwischen einem inländischen Stammhaus an eine ausländische Betriebsstätte,
  • einer vergleichbaren Lieferung von einer inländischen Betriebsstätte an das ausländische Mutterunternehmen oder auch zwischen Betriebsstätten eines Unternehmens in verschiedenen Staaten. Insoweit handelt es sich um einen Tatbestand der Betriebsstättenbesteuerung, d. h. der Gewinnabgrenzung zwischen Stammhaus (dem Mutterunternehmen) und einer Betriebsstätte in einem anderen Staat.

Die Besteuerungsgrundsätze ergeben sich aus dem jeweiligen DBA, z. B. Art. 5 und 7 des OECD-Musterabkommens (OECD-MA) sowie dem nationalen Recht (§ 4 EStG/§ 12 KStG/§ 1 AStG)[1].

Es stellt sich daher vorab die Frage, ob der deutsche Gesetzgeber neben den DBA nationale Grundsätze der Steuerentstrickung entwickeln kann oder ob er dadurch gegen DBA verstößt.

[1]

Zu den allgemeinen Grundsätzen der Betriebsstättenbesteuerung vgl. den Beitrag ...

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