Rz. 228

Bei erschwerter Sachverhaltsermittlung ist anstelle einer Schätzung grundsätzlich auch eine sog. tatsächliche Verständigung möglich.[1] Dabei handelt es sich um eine für beide Seiten bindende Einigung mit dem Ziel der Verfahrensbeschleunigung und des Rechtsfriedens.[2] Eine Verständigung kann dabei sowohl über die Besteuerungsgrundlage als auch über das Schätzungsverfahren erfolgen,[3] nicht aber über die Höhe der Steuer selbst.[4] Die tatsächliche Verständigung bedarf rechtlich gesehen keiner bestimmten Form,[5] wenngleich eine schriftliche Niederlegung vor dem Hintergrund der Beweissicherung und als Ausdruck des Rechtsbindungswillens sinnvoll erscheint.[6]

 

Rz. 229

Die tatsächliche Verständigung bezieht sich – im Gegensatz zur verbindlichen Auskunft gemäß § 89 Abs. 2 AO – stets auf abgeschlossene Sachverhalte.[7] Eine Bindungswirkung kann sich jedoch auch für die Zukunft ergeben, beispielsweise wenn Vereinbarungen über die Nutzungsdauer von Wirtschaftsgütern getroffen werden.[8] Eine tatsächliche Verständigung kommt nur infrage bei Sachverhalten, die nur unter erschwerten Umständen ermittelt werden können, beispielsweise wenn die Ermittlung mit einem nicht mehr vertretbaren Arbeits- oder Zeitaufwand verbunden wäre.[9] Der Anwendungsbereich der tatsächlichen Verständigung erstreckt sich damit vor allem auf Fälle, denen ein Schätzungs-, Bewertungs-, Beurteilungs- oder Beweiswürdigungsspielraum innewohnt.[10] Jedoch darf dies nicht dazu führen, dass ein Steuerpflichtiger, welcher durch Verletzung seiner Mitwirkungspflicht eigentlich geschätzt werden müsste, durch eine tatsächliche Verständigung besser gestellt würde als ein gesetzestreuer Steuerpflichtiger.[11]

 

Rz. 230

Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung ist eine tatsächliche Verständigung nur wirksam, wenn aufseiten der Finanzbehörde ein zur Entscheidung über die Steuerfestsetzung befugter Amtsträger beteiligt ist.[12] Dies kann der Vorsteher des Finanzamtes, der Veranlagungssachgebietsleiter oder der Sachgebietsleiter der Betriebsprüfungsstelle sein.[13] Durch die persönliche Anwesenheit eines über die Steuerfestsetzung befugten Amtsträgers soll dem Steuerpflichtigen die besondere Bedeutung der tatsächlichen Verständigung bewusst werden,[14] sodass eine Vertretung nicht in Betracht kommt.[15] War an dem Abschluss einer tatsächlichen Verständigung ein für die Entscheidung über die Steuerfestsetzung zuständiger Amtsträger nicht beteiligt, kann dieser Mangel nach Auffassung der Finanzverwaltung durch ausdrückliche nachträgliche Zustimmung gegenüber allen Beteiligten geheilt werden.[16]

 

Rz. 231

Die tatsächliche Verständigung ist gesetzlich nicht geregelt, ihre Rechtsgrundlage ist mitunter umstritten.[17] So wurde die Bindungswirkung der tatsächlichen Verständigung von der Rechtsprechung vornehmlich auf den Grundsatz von Treu und Glauben zurückgeführt,[18] während weite Teile der Literatur die Bindungswirkung an der Rechtsnatur der tatsächlichen Verständigung als öffentlich-rechtlicher Vertrag festmachen.[19] In jüngerer Vergangenheit hat der BFH die Frage nach der Rechtsgrundlage offen gelassen, gleichwohl aber ausdrücklich die Bindungswirkung einer tatsächlichen Verständigung betont.[20] Keine Bindungswirkung entfaltet eine tatsächliche Verständigung, wenn sie zu einem offensichtlich unzutreffenden Ergebnis führt,[21] wobei unter einer Gesamtwürdigung aller Umstände auf den jeweiligen Einzelfall abzustellen ist.[22]

 

Rz. 232

Eine wirksam zustande gekommene tatsächliche Verständigung kann im beiderseitigen Einvernehmen aufgelöst werden,[23] ein einseitiger Widerruf ist hingegen nicht möglich.[24] Die Anfechtungsvorschriften der §§ 119, 123 BGB sind auf die tatsächliche Verständigung grundsätzlich anwendbar.[25]

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