Entscheidungsstichwort (Thema)

Gendefekt als Behinderung

 

Leitsatz (redaktionell)

Ein Kind mit einem angeborenen Gendefekt (hier Myotone Dystrophie Curschmann-Steinert) ist auch dann als Kind i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG zu berücksichtigen, wenn die behinderungsbedingte Unfähigkeit des Kindes, sich selbst zu unterhalten, erst nach dem 27. Lebensjahr eingetreten ist.

 

Normenkette

EStG § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1, § 32 Abs. 4

 

Nachgehend

BFH (Urteil vom 27.11.2019; Aktenzeichen III R 44/17)

BFH (Aktenzeichen XI R 8/17)

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt für seine am ….08.1968 geborene Tochter A die Gewährung von Kindergeld.

Frau A leidet an einer Muskelerkrankung im Sinne einer so genannten Myotonen Dystrophie Curschmann-Steinert (MD). Hierbei handelt es sich um eine erbliche Muskelerkrankung, bei der es zu einer langsam fortschreitenden Abnahme der Muskelkraft bei gleichzeitigem Vorliegen von so genannten myotonen Phänomenen kommt. Als myotone Phänomene bezeichnet man das Auftreten von Muskelsteifigkeit, z.B. beim festen Zupacken. Erste Symptome dieser Krankheit traten bei Frau A bereits im Alter von 14 oder 15 Jahren auf. So gab es Probleme beim Laufen sowie beim Aufstehen aus der Hocke und es traten gelegentlich Versteifungen in ihrer Handmuskulatur auf, wenn z.B. jemand ihr ganz fest die Hand gedrückt hat. Die Erkrankung wurde aber zunächst nicht erkannt, Behandlungsversuche z.B. durch einen Orthopäden blieben erfolglos. Diagnostiziert wurde die Krankheit erst 1998, als eine Cousine von Frau A ein stark behindertes Kind zur Welt brachte und sich daraufhin mehrere Familienmitglieder, unter anderem auch sie, einer gentechnischen Untersuchung unterzogen. In den folgenden Jahren verstärkten sich die Symptome, insbesondere die Muskelschwäche in den Beinen, so dass sie z.B. das von ihr hobbymäßig betriebene Tennisspielen wegen Stürze beim Laufen einstellen musste. Ihr seit dem ….06.2005 gültiger Schwerbehindertenausweis weist seit dem ….03.2009 einen Grad der Behinderung von 100% verbunden mit den Merkzeichen G und aG aus, bis dahin einen Grad der Behinderung von 50% verbunden mit den Merkzeichen G.

Frau A ist gelernte Bürokauffrau. Sie war bis zum ….05.2010 bei der Firma B, zuletzt im Empfang beschäftigt. Ihr Arbeitsverhältnis endete – wie das von fast allen in der Firma beschäftigten Behinderten – durch eine betriebsbedingte Kündigung. Die in der Folgezeit unternommenen Bewerbungen führten im September 2011 zu einer Einstellung bei der Firma G. Dort wurde ihr nach sieben Tagen gekündigt, weil sie – so ihr Vortrag – die ihr übertragenen Aufgaben aufgrund ihrer Gehbehinderung nicht habe erfüllen können. Im Rahmen einer Rehabilitationsmaßnahme wurde ihr die Stellung eines Rentenantrags empfohlen, infolgedessen ihr durch Bescheid vom 22.08.2012 rückwirkend ab 01.10.2011 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung bewilligt wurde. Bis auf eine in der Zeit vom ….08.2012 bis zum ….08.2013 im Rahmen des „Generationsübergreifenden Freiwilligendienstes” der K ausgeübte freiwillige soziale Tätigkeit, für die sie eine monatliche Aufwandsentschädigung in Höhe von 165 € erhielt, ist Frau A seitdem nicht mehr beruflich tätig.

Mit Antrag vom 11.08.2014 begehrte der Kläger die Gewährung von Kindergeld für seine Tochter für die Zeit ab Januar 2010. Diesen Antrag lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 24.10.2014 ab mit der Begründung, dass die Behinderung der Tochter nicht, wie von § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) gefordert, vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten sei. Den hiergegen eingelegten Einspruch wies die Beklagte durch Einspruchsentscheidung vom 19.03.2015 als unbegründet zurück. Der Zustand der Behinderung sei bei der Tochter des Klägers wesentlich später als mit 27 Jahren eingetreten. Zwar sei sie mit einem Gendefekt geboren, dieser habe aber erst wesentlich später zu einer Behinderung im Sinne der genannten Vorschrift mit der Folge einer Beeinträchtigung der Teilnahme am Leben in der Gesellschaft geführt.

Hiergegen richtet sich die vorliegende Klage, mit der der Kläger geltend macht, dass es sich bei der Erkrankung seiner Tochter um einen Gendefekt handele, der von Geburt an vorgelegen habe. Er sei lediglich erst später diagnostiziert worden. Damit sei im Sinne von § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG die Behinderung vor dem 25. Lebensjahr eingetreten. Lediglich die dadurch bedingte Unfähigkeit zum Selbstunterhalt sei erst später eingetreten.

Im Rahmen des Erörterungstermins vom ….11.2016 haben die Beteiligten dahingehend Übereinstimmung erzielt, dass die vom Gericht aufgrund der Unterlagen des Klägers für die einzelnen streitbefangenen Monate erstellte Aufstellung über den notwendigen Lebensbedarf der Tochter sowie die kindeseigenen Mittel bezogen auf die einzelnen Monate zutreffend Überhang bzw. Unterdeckung ausweist. Sie stimmen außerdem aufgrund der Schilderung von Frau A dahingehend überein, dass, soweit sich in den einzelnen Monaten Unterdeckungen ergeben, diese ab Juni 2011 ursächlich durch di...

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