Leitsatz

Dem EuGH werden folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Nach dem EuGH-Urteil FIRIN vom 13. März 2014 C‐107/13 (EU:C:2014:151, UR 2014, 705, MwStR 2014, 240, Rz. 39, Satz 1) scheidet der Vorsteuerabzug aus einer Anzahlung aus, wenn der Eintritt des Steuertatbestands zum Zeitpunkt der Anzahlung unsicher ist. Beurteilt sich dies nach der objektiven Sachlage oder aus der objektivierten Sicht des Anzahlenden?

2. Ist das EuGH-Urteil FIRIN (EU:C:2014:151, UR 2014, 705, MwStR 2014, 240, Leitsatz und Rz. 58) dahingehend zu verstehen, dass nach dem Unionsrecht eine Berichtigung des Vorsteuerabzugs, den der Anzahlende aus seiner auf eine Lieferung von Gegenständen ausgestellten Anzahlungsrechnung vorgenommen hat, nicht die Rückzahlung der geleisteten Anzahlung voraussetzt, wenn diese Lieferung letztlich nicht bewirkt wird?

3. Falls die vorstehende Frage zu bejahen ist: Ermächtigt Art. 186 MwStSystRL, der es den Mitgliedstaaten gestattet, die Einzelheiten der Berichtigung nach Art. 185 MwStSystRL festzulegen, den Mitgliedstaat Bundesrepublik Deutschland dazu, in seinem nationalen Recht anzuordnen, dass es erst mit der Rückgewähr der Anzahlung zur Minderung der Bemessungsgrundlage für die Steuer kommt und dementsprechend Umsatzsteuerschuld und Vorsteuerabzug zeit- sowie bedingungsgleich zu berichtigen sind?

 

Normenkette

§ 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 3, § 2 Abs. 1, § 17 Abs. 1 Sätze 1, 2 und 7, Abs. 2 Nr. 2 UStG, Art. 185 Abs. 1, 186, 62, 63, 65, 167, 184, EG-RL 112/2006 (= MwStSystRL)

 

Sachverhalt

Der Kläger bestellte am 3. August 2010 bei A ein BHKW mit einer Leistung von 40 kW zum Preis von 30.000 EUR zzgl. 5.700 EUR Umsatzsteuer, dessen Lieferung voraussichtlich 14 Wochen nach Geldeingang vorgesehen war. Nachdem der Kläger die Zahlung in Höhe von 35.700 EUR am 27. August 2010 geleistet hatte, erhielt er von A unter dem 28. August 2010 eine Rechnung über die Lieferung des BHKW.

Der Kläger beabsichtigte zunächst den Betrieb des BHKW. Am 6. Oktober 2010 schloss er jedoch einen "Pachtvertrag" über das BHKW. A war danach berechtigt, das BHKW zur Erzeugung von Strom und anderen Energien gegen eine jährliche Pacht i.H.v. 14.400 EUR (netto), zahlbar in zwölf monatlichen Raten zu jeweils 1.200 EUR, zzgl. Umsatzsteuer zu nutzen. Der "Pachtvertrag" hatte eine Laufzeit von zehn Jahren. Die vereinbarte "Pacht" war "ab Beginn des zweiten Monats nach Abschluss" zu zahlen, ohne dass es auf eine Übergabe des BHKW angekommen wäre.

Der Kläger erhielt Pachtzahlungen für die Monate Oktober, November und Dezember 2010.

Zur Lieferung des BHKW kam es nicht. Am 30. November 2010 wurden von der Staatsanwaltschaft u.a. die Geschäftsräume der A durchsucht und Personen aus deren Umfeld festgenommen. Am 3. Dezember 2010 teilte A mit, dass sämtliche Vertriebsaktivitäten eingestellt worden seien, insbesondere keine Container mehr ausgeliefert würden. Auf einen Antrag vom 30. Dezember 2010 wurde am 1. März 2011 das Insolvenzverfahren über das Vermögen der A eröffnet.

Der Kläger machte den Vorsteuerabzug aus der ­Anzahlung geltend, den das FA nicht gewährte. Das FG Baden-Württemberg (Urteil vom 19.9.2014, 9 K 2914/12, Haufe-Index 7674447) gab der Klage statt. Der Kläger könne den Vorsteuerabzug beanspruchen, bis für ihn objektiv erkennbar gewesen sei, dass die Leistung endgültig nicht erbracht werde. Dies sei im Streitjahr 2010 nicht der Fall gewesen. Eine Berichtigung des Vorsteuerabzugs scheitere nach der bisherigen Rechtsprechung des BFH schon daran, dass die Anzahlung nicht zurückgewährt worden sei. Nach dem EuGH-Urteil FIRIN (UR 2014, 705) komme vorliegend eine Berichtigung erst für den Besteuerungszeitraum 2011 in Betracht.

 

Entscheidung

Der XI. Senat des BFH legte dem EuGH die in den Leitsätzen genannten Fragen vor. Er ging dabei davon aus, dass bereits im Jahr 2010 objektiv festgestanden habe, dass es zur Lieferung der BHKW nicht (mehr) kommen werde.

 

Hinweis

1. Tatsächlicher Hintergrund

Der Streitfall hat – ebenso wie die Kommentierung (S. 90) zum taggleichen Beschluss des V. Senats (BFH, Beschluss vom 21.9.2016, V R 29/15) – zwei wichtige Fragen des Vorsteuerabzugs aus Anzahlungen zum Gegenstand. Der Sachverhalt betrifft ein im Jahr 2010 aufgeflogenes"Betrugsmodell" mit tatsächlich nicht existierenden Blockheizkraftwerken, denen unrealistische Leistungsdaten zugeschrieben wurden, sodass den Käufern eine unrealistisch hohe Rendite vorgegaukelt werden konnte.

Die strafrechtliche Aufarbeitung ist durch das Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 27.2.2014 (12 KLs 507 Js 1612/10) und den BGH-Beschluss vom 11.6.2015 (1 StR 590/14, NStZ-RR 2015, 379) erfolgt: Die Verantwortlichen wurden u.a. wegen gewerbs- und bandenmäßigen Betrugs in 88 Fällen, aber nicht wegen Steuerhinterziehung verurteilt. Vor diesem Hintergrund stellt sich den beiden Umsatzsteuersenaten des BFH in mehreren Verfahren die Frage, ob ein Vorsteuerabzug aus den von den Käufern geleisteten Anzahlungen möglich ist und ob dieser ggf. berichtigt werden muss.

2. Vorsteuerabzug a...

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