Leitsatz

Dem EuGH werden folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Umfasst der Begriff der Bauleistungen i.S.v. Art. 2 Nr. 1 der Ermächtigung 2004/290/EG neben Dienstleistungen auch Lieferungen?

2. Falls sich die Ermächtigung zur Bestimmung des Leistungsempfängers als Steuerschuldner auch auf Lieferungen erstreckt:

Ist der ermächtigte Mitgliedstaat berechtigt, die Ermächtigung nur teilweise für bestimmte Untergruppen wie einzelne Arten von Bauleistungen und für Leistungen an bestimmte Leistungsempfänger auszuüben?

3. Falls der Mitgliedstaat zu einer Untergruppenbildung berechtigt ist: Bestehen für den Mitgliedstaat Beschränkungen bei der Untergruppenbildung?

4. Falls der Mitgliedstaat zu einer Untergruppenbildung allgemein (s. oben Frage 2) oder aufgrund nicht beachteter Beschränkungen (s. oben Frage 3) nicht berechtigt ist:

  1. Welche Rechtsfolgen ergeben sich aus einer unzulässigen Untergruppenbildung?
  2. Führt eine unzulässige Untergruppenbildung dazu, dass die Vorschrift des nationalen Rechts nur zugunsten einzelner Steuerpflichtiger oder allgemein nicht anzuwenden ist?
 

Normenkette

Art. 2 Abs. 1, Art. 4 Abs. 3, Art. 5 Abs. 1 und Abs. 5, Art. 6 Abs. 1, Art. 21 Abs. 1 Buchst. a S. 1 der 6. EG-RL, Ermächtigung des Rates vom 30.03.2004, 2004/290/EG, § 3 Abs. 1, Abs. 4 und Abs. 9, § 13b UStG

 

Sachverhalt

Bei der Frage, ob der Leistungsempfänger selbst Bauleistungen erbringt, geht die Verwaltung davon aus, dass der Leistungsempfänger beim Bezug einer Bauleistung nur dann Steuerschuldner ist, wenn zumindest 10 % seines "Weltumsatzes" im Vorjahr aus derartigen Bauleistungen bestanden hat. Ob von der Klägerin die "10 %-Grenze" überschritten wurde, war Ausgangspunkt des Rechtsstreits (Vorinstanz: FG Münster, Gerichtsbescheid vom 01.09.2010, 5 K 3000/08 U, Haufe-Index 2565627, EFG 2011, 278).

 

Entscheidung

Die Gründe für die Vorlage an den EuGH ergeben sich aus den Praxis-Hinweisen. Ob die auf das Vorjahr abstellende 10 %-Grenze die Billigung des BFH findet, ist – wie sich aus den Gründen ablesen lässt – mehr als zweifelhaft.

 

Hinweis

1. Abweichend vom Regelfall, wonach stets der Leistende die USt schuldet, schuldet nach § 13b Abs. 1 Nr. 4 i.V.m. Abs. 2 S. 2 UStG der Leistungsempfänger die Steuer für Werklieferungen und sonstige Leistungen, die der Herstellung, Instandsetzung, Instandhaltung, Änderung oder Beseitigung von Bauwerken dienen, mit Ausnahme von Planungs- und Überwachungsleistungen, wenn er selbst solche Leistungen erbringt. Diese Regelung beruht auf der Ermächtigung des Rates vom 30.03.2004, 2004/290/EG zur Einführung des Reverse-Charge-Verfahrens "bei der Erbringung von Bauleistungen an einen Steuerpflichtigen". Diese Ermächtigung wurde zwar mit Wirkung zum 01.01.2008 durch eine Regelung zur Umkehr der Steuerschuldnerschaft in der RL selbst ersetzt (inzwischen Art. 199 der RL 2006/112/EG). Da diese Neuregelungen aber weiterhin den Begriff "Bauleistungen" verwenden, hat die Vorlage auch Bedeutung für die Zukunft.

2. Nach Art. 5 Abs. 5 der im Streitfall noch maßgeblichen 6. EG-RL (jetzt Art. 14 der MwStSystRL) können die Mitgliedstaaten "als Lieferungen … die Erbringung bestimmter Bauleistungen betrachten". Die die Ermächtigung ablösenden RL-Regelungen nehmen ausdrücklich Bezug auf Art. 5 Abs. 5 der 6. EG-RL (bzw. Art. 14 Abs. 3 der MwStSystRL). Dies könnte für die Annahme sprechen, dass unter Bauleistungen nur (Bau-)Dienstleistungen zu verstehen sind. Weil aber "bestimmte Bauleistungen" als Lieferungen betrachtet werden können, ist es auch denkbar, dass der Begriff "Bauleistungen" als Oberbegriff für (Bau-)Lieferungen und Bau-(Dienstleistungen) zu verstehen ist.

3. Unionsrechtliche Zweifel bestehen daher daran, ob die Ermächtigung (und für spätere Zeiträume die betreffende Regelung in der Richtlinie) das Reverse-Charge-Verfahren nur für Baudienstleistungen (= sonstige Leistungen), nicht dagegen für (Werk-)Lieferungen erlaubt. Falls die Ermächtigung sich auch auf Lieferungen erstreckt, ist weiter zu klären, ob der Mitgliedstaat von der Ermächtigung abweichen und Untergruppen bilden kann. Denn während der Rat die Einführung des Reverse-Charge-Verfahrens erlaubt, wenn der Leistungsempfänger "Steuerpflichtiger" – alsoUnternehmer i.S.d. UStG– ist, tritt nach § 13b Abs. 2 S. 2 UStG die Umkehr der Steuerschuld nur ein, wenn der Leistungsempfänger ein Unternehmer ist, der selbst Bauleistungen erbringt.

4. Zweifelhaft sind die Rechtsfolgen bei Unvereinbarkeit mit dem Unionsrecht: Nach der Rechtsprechung des EuGH ist eine mit dem Unionsrecht nicht vereinbare Regelung nicht anzuwenden und stattdessen die RL-Regelung maßgebend. Die bisherigen Entscheidungen betrafen aber – anders als § 13b UStG – keine Regelungen mit Wirkung für zwei Steuerpflichtige. Wäre nur zugunsten des Leistungsempfängers die Regelung nicht anwendbar, entstünde eine mit der Systematik der RL nicht ver­einbare Besteuerungslücke. Vorsorglich ist eine Vereinbarung über die USt anzuraten.

 

Link zur Entscheidung

BFH, Beschluss vom 30.06.2011 – V R 37/10

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