Entscheidungsstichwort (Thema)

Steuerschuldnerschaft des Leistungsempfängers, Reverse Charge, Lieferungen von Grundstücken im Zwangsversteigerungsverfahren

 

Leitsatz (amtlich)

Art. 199 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist dahin auszulegen, dass unter den Begriff des Zwangsversteigerungsverfahrens jeder Verkauf eines Grundstücks fällt, den der Schuldner einer vollstreckbaren Forderung, sei es im Rahmen eines Verfahrens zur Liquidation seines Vermögens, sei es im Rahmen eines Insolvenzverfahrens, das einem solchen Liquidationsverfahren vorausgeht, tätigt, wenn dieser Verkauf geboten ist, um die Gläubiger zu befriedigen oder dem Schuldner die Wiederaufnahme seiner wirtschaftlichen oder beruflichen Tätigkeit zu ermöglichen.

 

Normenkette

EGRL 112/2006 Art. 199 Abs. 1 Buchst. g

 

Beteiligte

Promociones y Construcciones BJ 200

Promociones y Construcciones BJ 200 SL

Spanischer Staat

 

Verfahrensgang

Juzgado de lo Mercantil n o 1 de Granada (Spanien) (Urteil vom 24.02.2012; ABl. EU 2012, Nr. C 174/15)

 

Tatbestand

„Mehrwertsteuer ‐ Richtlinie 2006/112/EG ‐ Art. 199 Abs. 1 Buchst. g ‐ Freiwilliges Insolvenzverfahren ‐ Steuerschuldner ‐ Empfänger bestimmter Umsätze als Steuerpflichtiger ‐ Begriff ‚Zwangsversteigerungsverfahren‘“

In der Rechtssache C-125/12

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Juzgado de lo Mercantil N° 1 de Granada (Spanien) mit Entscheidung vom 24. Februar 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 8. März 2012, in dem Verfahren

Promociones y Construcciones BJ 200 SL

erlässt

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin M. Berger sowie der Richter A. Borg Barthet (Berichterstatter) und E. Levits,

Generalanwalt: M. Wathelet,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

‐ der Promociones y Construcciones BJ 200 SL, vertreten durch B. S. Sánchez Pozo, procuradora, im Beistand von E. Osuna Martínez, abogado,

‐ von Herrn I. Alba Muñoz, abogado, als Insolvenzverwalter der Promociones y Construcciones BJ 200 SL,

‐ der spanischen Regierung, vertreten durch N. Díaz Abad als Bevollmächtigte,

‐ der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér und K. Szíjjártó als Bevollmächtigte,

‐ der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Lozano Palacios als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 199 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347, S. 1).

Rz. 2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines freiwilligen Insolvenzverfahrens der Promociones y Construcciones BJ 200 SL (im Folgenden: Promociones y Construcciones), in dessen Verlauf der Verkauf zweier dieser Gesellschaft gehörender Grundstücke zu einer Mehrwertbesteuerung führte.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Rz. 3

Der 42. Erwägungsgrund der Richtlinie 2006/112 lautet:

„Die Mitgliedstaaten sollten in die Lage versetzt werden, in bestimmten Fällen den Erwerber von Gegenständen oder den Dienstleistungsempfänger als Steuerschuldner zu bestimmen. Dies würde es den Mitgliedstaaten erlauben, die Vorschriften zu vereinfachen und die Steuerhinterziehung und -umgehung in bestimmten Sektoren oder bei bestimmten Arten von Umsätzen zu bekämpfen.“

Rz. 4

Nach Art. 199 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 2006/112 können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass der steuerpflichtige Empfänger die Mehrwertsteuer schuldet, an den ein Umsatz bewirkt wird, der in der Lieferung von Grundstücken besteht, die vom Schuldner im Rahmen eines Zwangsversteigerungsverfahrens verkauft werden.

Spanisches Recht

Rz. 5

In Art. 84 Abs. 1 des Gesetzes 37/1992 vom 28. Dezember 1992 über die Mehrwertsteuer (Ley 37/1992 del Impuesto sobre el Valor Añadido, BOE Nr. 312 vom 29. Dezember 1992, S. 44247) in der durch das Gesetz 38/2011 vom 10. Oktober 2011 zur Änderung des Gesetzes 22/2003 vom 9. Juli 2003 über das Insolvenzverfahren (Ley 38/2011 de reforma de la Ley 22/2003, de 9 de julio 2003, Concursal, BOE Nr. 245 vom 11. Oktober 2011, S. 106745) geänderten Fassung heißt es:

„Steuerpflichtig sind

1. natürliche oder juristische Personen, die Unternehmer oder Freiberufler sind und Gegenstände liefern oder Dienstleistungen erbringen, die der Steuer unterliegen, unbeschadet der in den folgenden Nummern getroffenen Bestimmungen;

2. Unternehmer oder Freiberufler, für die die steuerpflichtigen Umsätze erbracht werden, in den folgenden Fällen:

e) bei der Lieferung von Grundstücken im Rahmen eines Insolvenzverfahrens.

…“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

Rz. 6

Mit Beschluss vom 22. Februar 2010 wurde Promociones y Construcciones für insolvent erklärt und über ihr Vermögen das freiwillige Insolvenzverfahren („proceso concursal voluntario“) eröffnet.

Rz. 7

Im Rahmen des allgemeinen Abschnitts di...

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