Entscheidungsstichwort (Thema)

Steuerbefreiung, Innergemeinschaftliche Lieferung, Nichterfassung des Erwerbers im MIAS-System, Bedeutung der Ust-IdNr.

 

Leitsatz (amtlich)

Art. 131 und Art. 138 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem sind dahin auszulegen, dass sie die Steuerverwaltung eines Mitgliedstaats daran hindern, die Mehrwertsteuerbefreiung einer innergemeinschaftlichen Lieferung nur aus dem Grund zu versagen, dass der im Bestimmungsmitgliedstaat ansässige Erwerber, der eine für die Umsätze in diesem Staat gültige Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer besitzt, zum Zeitpunkt der Lieferung weder im Mehrwertsteuer-Informationsaustauschsystem registriert noch von einem Besteuerungssystem für den innergemeinschaftlichen Erwerb erfasst ist, obwohl keine ernsthaften Anhaltspunkte für eine Steuerhinterziehung bestehen und feststeht, dass die materiellen Voraussetzungen der Befreiung erfüllt sind. In diesem Fall steht Art. 138 Abs. 1 dieser Richtlinie bei einer Auslegung im Licht des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes einer solchen Versagung ebenfalls entgegen, wenn der Verkäufer von der mehrwertsteuerlichen Situation des Erwerbers Kenntnis hatte und davon überzeugt war, dass dieser zu einem späteren Zeitpunkt rückwirkend als innergemeinschaftlicher Marktteilnehmer registriert werden würde.

 

Normenkette

EGRL 112/2006 Art. 131, 138 Abs. 1

 

Beteiligte

Euro Tyre

Euro Tyre BV - Sucursal em Portugal

Autoridade Tributária e Aduaneira

 

Verfahrensgang

Tribunal Arbitral Tributário (Portugal) (Beschluss vom 30.11.2015; ABl. EU 2016, Nr. C 118/11)

 

Tatbestand

„Vorlage zur Vorabentscheidung ‐ Mehrwertsteuer ‐ Richtlinie 2006/112/EG ‐ Art. 131 und 138 ‐ Voraussetzungen der Steuerbefreiung einer innergemeinschaftlichen Lieferung ‐ Mehrwertsteuer-Informationsaustauschsystem (MIAS) ‐ Fehlende Registrierung des Erwerbers ‐ Versagung der Steuerbefreiung ‐ Zulässigkeit“

In der Rechtssache C-21/16

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal Arbitral Tributário (Centro de Arbitragem Administrativa) (Schiedsgericht für Steuerangelegenheiten [Zentralstelle für das Verwaltungsschiedsverfahren], Portugal) mit Entscheidung vom 30. November 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 15. Januar 2016, in dem Verfahren

Euro Tyre BV ‐ Sucursal em Portugal

gegen

Autoridade Tributária e Aduaneira

erlässt

DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Juhász, der Richterin K. Jürimäe (Berichterstatterin) und des Richters C. Lycourgos,

Generalanwalt: P. Mengozzi,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

‐ der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Inez Fernandes, R. Campos Laires und M. Figueiredo als Bevollmächtigte,

‐ der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

‐ der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Lozano Palacios und G. Braga da Cruz als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 131 und Art. 138 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) sowie des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit.

Rz. 2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Euro Tyre BV ‐ Sucursal em Portugal (im Folgenden: Euro Tyre) und der Autoridade Tributária e Aduaneira (Steuer- und Zollbehörde, Portugal) über die von dieser Behörde versagte Mehrwertsteuerbefreiung mehrerer Umsätze, die von Euro Tyre als innergemeinschaftliche Lieferungen von Gegenständen eingestuft wurden.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Mehrwertsteuerrichtlinie

Rz. 3

Nach Art. 9 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie gilt als „Steuerpflichtiger“, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbständig ausübt. Als „wirtschaftliche Tätigkeit“ gelten nach der Definition in dieser Vorschrift alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden einschließlich der Tätigkeiten der Urproduzenten, der Landwirte sowie der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufe. Wie die Vorschrift präzisiert, gilt als wirtschaftliche Tätigkeit insbesondere die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen.

Rz. 4

Art. 131 der Richtlinie lautet:

„Die Steuerbefreiungen der Kapitel 2 bis 9 werden unbeschadet sonstiger Gemeinschaftsvorschriften und unter den Bedingungen angewandt, die die Mitgliedstaaten zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung dieser Befreiungen und zur Verhinderung von Steuerhinterziehung, Steuerumgehung oder Missbrauch festlegen.“

Rz. 5

Art. 138 Abs. 1 der Richtlinie sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten befreien die Lieferungen von Gegenständen, die durch den Verkäufer, d...

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