Leitsatz

Das Gemeinschaftsrecht steht bei einer Sachlage wie der des Ausgangsverfahrens der Anwendung einer Vorschrift des nationalen Rechts wie Art. 2909 des Codice civile in einem die Mehrwertsteuer betreffenden Rechtsstreit, der ein Veranlagungsjahr betrifft, für das noch keine endgültige gerichtliche Entscheidung ergangen ist, entgegen, soweit diese Vorschrift das mit dem Rechtsstreit befasste Gericht an der Berücksichtigung gemeinschaftsrechtlicher Bestimmungen zu missbräuchlichen Praktiken auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer hindert.

 

Normenkette

EWGRL 388/77, EGVtr

 

Sachverhalt

Olimpiclub, eine GmbH, war Eigentümer einer Sportanlage, die sie durch einen Nutzungsvertrag einer gemeinnützigen Vereinigung überließ. Diese Vereinbarung beurteilte die Finanzverwaltung als missbräuchlich. Für ein Vorjahr hatte ein Gericht bereits rechtkräftig entschieden, dass kein Missbrauch vorliege. Ob dies auch für die Folgejahre bindend sei, war die Frage.

 

Entscheidung

Die Entscheidung bestätigt im Ergebnis den im nationalen Recht geltenden Grundsatz der Abschnittsbesteuerung auch für das Gemeinschaftsrecht.

 

Hinweis

1. Die Regelung im Verfahrensrecht in Italien, wonach "in rechtskräftigen Urteilen enthaltene Feststellungen sind für die Parteien, ihre Erben oder Rechtsnachfolger in jeder Hinsicht bindend (sind)", soll nach der Auslegung durch die Rechtsprechung auch gelten, wenn in Bezug auf dasselbe Rechtsverhältnis derselbe "grundlegende Punkt" logische Prämisse für ein anderes Verfahren bildet, auch wenn das zweite Verfahren andere Ziele als die verfolgt, die den Gegenstand des ersten Verfahrens und das dortige Begehren bildeten. Ob das gemeinschaftsrechtswidrig ist, wenn es sich insoweit um eine i.S.d. Gemeinschaftsrechts missbräuchliche Praxis handelt und der Steuerbescheid über das betreffende Veranlagungsjahr noch nicht bestandrechtskräftig ist, war die Frage.

2. Der Grundsatz der Rechtskraft gilt auch in der Gemeinschaftsrechtsordnung. Das Gemeinschaftsrecht gebietet einem nationalen Gericht nicht, von der Anwendung innerstaatlicher Verfahrensvorschriften, aufgrund deren eine Entscheidung Rechtskraft erlangt, abzusehen, selbst wenn dadurch ein Verstoß dieser Entscheidung gegen Gemeinschaftsrecht abgestellt werden könnte. Da auf diesem Gebiet gemeinschaftsrechtliche Vorschriften fehlen, ist es nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie Sache der innerstaatlichen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, die Modalitäten der Umsetzung des Grundsatzes der Rechtskraft festzulegen. Diese Modalitäten dürfen lediglich nicht ungünstiger sein als die, die bei ähnlichen internen Sachverhalten gelten (Grundsatz der Gleichwertigkeit), und nicht so ausgestaltet sein, dass sie die Ausübung der Rechte, die die Gemeinschaftsrechtsordnung einräumt, praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz). Das EuGH-Urteil vom 18.07.2007, Lucchini (C-119/05, BFH/NV 2009, 1762) betrifft den Sonderfall, in dem einige Grundsätze der Verteilung der Kompetenzen zwischen den Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft auf dem Gebiet staatlicher Beihilfen infrage standen.

3. Zur Gewährleistung des Rechtsfriedens und der Beständigkeit rechtlicher Beziehungen sowie einer geordneten Rechtspflege sollen die nach Ausschöpfung des Rechtswegs oder nach Ablauf der entsprechenden Rechtsmittelfristen unanfechtbar gewordenen Gerichtsentscheidungen nicht mehr infrage gestellt werden können (Grundsatz der Rechtssicherheit). Dieser Grundsatz verhindert, dass eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung, selbst wenn sie zu einer Verletzung des Gemeinschaftsrechts führt, nochmals infrage gestellt wird. Dem Grundsatz der Effektivität widerspräche es jedoch, wenn eine unrichtige Auslegung des Gemeinschaftsrechts nicht in einem anderen Veranlagungsjahr, dessen Steuerbescheid noch nicht bestandskräftig ist bzw. über dessen Rechtmäßigkeit  noch nicht rechtskräftig entschieden ist, nicht infrage gestellt werden könnte.

 

Link zur Entscheidung

EuGH, Urteil vom 03.09.2009, C-2/08 – Fallimento Olimpiclub Srl –

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