Leitsatz

Das Recht der Union ist dahin auszulegen, dass nach ihm der Steuerpflichtige, der einen zu hohen Mehrwertsteuerbetrag entrichtet hat, der vom betreffenden Mitgliedstaat unter Verstoß gegen die Mehrwertsteuervorschriften der Union erhoben worden war, Anspruch auf Erstattung der unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobenen Steuer sowie Anspruch auf deren Verzinsung haben muss. Ob der Hauptbetrag nach einer Regelung über die einfache Verzinsung, einer Zinseszinsregelung oder nach einer anderen Regelung zu verzinsen ist, ist nach nationalem Recht unter Beachtung der Grundsätze der Effektivität und der Äquivalenz zu bestimmen.

 

Normenkette

Art. 11 Teil C Abs. 1 6. EG-RL (UStG § 17, AO § 169, § 233a)

 

Sachverhalt

Littlewoods (L) ist ein Katalogversandhandel. Über "Vertreter" verteilte L die Kataloge und verkaufte die Waren. Die Vertreter erhielten eine Provision für "Drittkäufe", die sie entweder bar erhielten oder als Anrechnung für eigene vorausgehende oder für zukünftige Käufe von Waren bei L angerechnet erhielten. Ausgangspunkt des Vorabentscheidungsersuchens war die von niemandem infrage gestellte Prämisse, es habe sich insoweit nicht – wie seit 30 Jahren von der britischen Finanzverwaltung und dem Steuerpflichtigen angenommen – um eine Gegenleistung für die Tätigkeit der Vermittler, sondern bei vergangenen Warenkäufen der Vermittler von L um Rabatt und bei zukünftigen um Skonto gehandelt. Gegenstand der Besprechungsentscheidung war allein die Frage, unter welchen Voraussetzungen eine zu Unrecht erhobene Umsatzsteuer erstattet werden muss.

 

Entscheidung

Die wesentlichen Grundsätze ergeben sich aus den Praxis-Hinweisen. Ob die Prämisse der Entscheidung, Provisionen eines Handelsvertreters seien keine Gegenleistung für seine Tätigkeit, wenn er damit Gegenstände des Unternehmens, dessen ­Waren er vertritt, kauft, vertretbar sein könnte, war nicht Gegenstand des Vorabentscheidungsersuchens.

 

Hinweis

1. Wird ein Umsatzsteuersachverhalt zu Unrecht zulasten des Steuerpflichtigen beurteilt und ist diese Beurteilung mit Unionsrecht nicht vereinbar, stellt sich die Frage, unter welchen Voraussetzungen die zu Unrecht erhobene Steuer zurückerstattet werden muss. Das Unionsrecht gibt nur das materielle Umsatzsteuerrecht vor, nicht dagegen das Verfahrensrecht.

2. Ein Steuerbescheid ist auch bei einem erst nachträglich erkannten Verstoß gegen das Unionsrecht nicht unter günstigeren Bedingungen als bei einer Verletzung innerstaatlichen Rechts änderbar. Das Korrektursystem der §§ 172 ff. AO regelt – auch – die Durchsetzung der sich aus dem Unionsrecht ergebenden Ansprüche abschließend. Nach den Vorgaben des Unionsrechts muss das steuerrechtliche Verfahrensrecht auch keine weitergehenden Korrekturmöglichkeiten für Steuerbescheide vorsehen.

Bei Vorliegen der Voraussetzungen eines unionsrechtlichen Entschädigungsanspruchs kommt nur ein Erlass der Steuer gemäß § 227 AO in Betracht. Mangels einer Unionsregelung über die Erstattung zu Unrecht erhobener inländischer Abgaben ist es Aufgabe des innerstaatlichen Rechts der einzelnen Mitgliedstaaten, insoweit die Verfahrensmodalitäten zu regeln. Diese vom BVerfG im Beschluss vom 29.5.2012, 1 BvR 640/11 (BFH/NV 2012, 1404) bestätigten Grundsätze des BFH (z.B. BFH vom 16.9.2010, VR 57/09, BFH/NV 2011, 99) entsprachen und entsprechen der Rechtsprechung des EuGH, wie die vorliegende Besprechungsentscheidung zur Vorlage eines englischen Gerichts bestätigt:

Der Äquivalenzgrundsatz verlangt nur, dass die nationale Regelung in gleicher Weise für Rechtsbehelfe gilt, die auf die Verletzung des Unionsrechts gestützt sind, wie für solche, die auf die Verletzung des innerstaatlichen Rechts gestützt sind, sofern diese Rechtsbehelfe einen ähnlichen Gegenstand und Rechtsgrund haben. Der Grundsatz der Äquivalenz darf jedoch nicht so verstanden werden, dass er einen Mitgliedstaat verpflichtet, die günstigste innerstaatliche Regelung auf alle Rechtsbehelfe zu erstrecken, die in einem bestimmten Rechtsbereich eingelegt werden.

Aus unionsrechtlicher Sicht ist daher allein zu prüfen, ob die Modalitäten, die im innerstaatlichen Recht den Schutz der unionsrechtlich vorgegebenen Rechte gewährleisten sollen, sowohl hinsichtlich des Gegenstandes als auch der wesentlichen Merkmale der Rechtsbehelfe vergleichbar sind. Das ist im Steuerrecht der Fall, weil die Abgabenordnung nicht danach unterscheidet, ob die fehlerhafte Beurteilung eines Sachverhalts auf einer Verkennung des nationalen oder des Unionsrechts beruht.

 

Link zur Entscheidung

EuGH, Urteil vom 19.7.2012 – C-591/10 – Littlewoods Retail u.a.

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