Das Einspruchsverfahren wird als "verlängertes Festsetzungsverfahren" vom Untersuchungsgrundsatz beherrscht[1], d. h., das Finanzamt ist an das Vorbringen und die Beweisanträge des Einspruchsführers nicht gebunden. Dessen Antrag und Begründung begrenzen die Befugnisse und Pflichten der Behörde nicht. Dabei sind auch die für ihn günstigen Umstände zu berücksichtigen. Eine Bindung an den angefochtenen Verwaltungsakt besteht nicht, er ist also voll überprüfbar. Folglich kann das Finanzamt nicht nur den Einspruch als unbegründet zurückweisen, sondern darüber hinaus den angefochtenen Verwaltungsakt gem. § 367 Abs. 2 Satz 2 AO zum Nachteil des Einspruchsführers ändern.[2]

Der Untersuchungsgrundsatz wird durch die Mitwirkungspflichten des Steuerpflichtigen begrenzt. Das Finanzamt ist nicht verpflichtet, den möglichen Fehler mit allen Mitteln selbst zu suchen, sondern ist in besonderem Maße auf den Vortrag und ggf. auf die Vorlage von Beweismitteln des Einspruchsführers angewiesen.

Wie schon auf der ersten Ebene des Besteuerungsverfahrens muss das Finanzamt auch im Einspruchsverfahren rechtliches Gehör gewähren.[3] Die Verletzung dieses Prinzips ist ein wesentlicher Verfahrensmangel und macht die Einspruchsentscheidung rechtswidrig, aber nicht nichtig. Unter bestimmten Umständen kann dies nach § 100 Abs. 3 FGO zur Aufhebung der Entscheidung im Klageverfahren und zur Zurückweisung der Sache an das Finanzamt durch das Finanzgericht führen. Das Gericht kann und darf eine Verletzung des Rechts auf Gehör allerdings auch selbst heilen.

Dem Anspruch auf rechtliches Gehör hat das Finanzamt insbesondere Rechnung zu tragen durch

  • grundsätzliche Gelegenheit zur Stellungnahme vor Erlass der Einspruchsentscheidung.
  • Mitteilung der Besteuerungsunterlagen.[4]
  • Gewährung von Akteneinsicht nach Ermessen des Finanzamts[5], was sich ggf. bei Einsprüchen gegen Korrekturbescheide zulasten des Steuerpflichtigen anbietet, um die zur Korrektur führenden Umstände nachvollziehen zu können. Der Anspruch aus § 364 AO und der auf Akteneinsicht stehen grundsätzlich selbstständig nebeneinander.[6] Die Akteneinsicht in Kindergeldsachen nach dem EStG richtet sich nach der AO; insoweit besteht ebenfalls ein Anspruch auf eine fehlerfreie Ermessensentscheidung.[7]
  • ggf. den Verböserungshinweis[8] nach § 367 Abs. 2 Satz 2 2. Halbsatz AO.
  • mündliche Erörterung des Sach- und Rechtsstands nach § 364a AO. Damit sollen die einvernehmliche Erledigung der Einspruchsverfahren gefördert und Streitfälle von den Gerichten[9] ferngehalten werden.[10] Zu beachten ist, dass bei solchen Erörterungsterminen getroffene Verständigungen den allgemeinen Grundsätzen entsprechend Bindungswirkung nur hinsichtlich Sachverhalts-, nicht aber hinsichtlich Rechtsfragen entfalten können. Solange demnach das Finanzamt eine Einigung in Rechtsfragen noch nicht in einen Abhilfe- oder Teilabhilfebescheid umgesetzt bzw. der Einspruchsführer seinen Einspruch zurückgenommen hat, sind "Meinungskorrekturen" trotz einer Einigung im Erörterungstermin noch möglich. Bei einer Einigung über Sachverhaltsfragen spricht man von der "tatsächlichen Verständigung". Sie kommt vor allem in Fällen erschwerter Sachverhaltsermittlung, bspw. in Schätzungsfällen, in Betracht und dient sowohl der Verfahrensbeschleunigung als auch dem Rechtsfrieden. Getroffen werden kann sie in jedem Verfahrensabschnitt, also nicht nur im Einspruchsverfahren, sondern schon auf der vorangehenden Ebene, um gerade ein Einspruchsverfahren zu vermeiden.[11]

    Lehnt das FA eine Erörterung des Sach- und Rechtsstands gem. § 364a AO ab, was eigentlich nur in Fällen offensichtlicher Verfahrensverschleppung erfolgen soll, ist eine hiergegen erhobene Klage wegen fehlenden Rechtsschutzinteresses unzulässig.[12]

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