Visual Thinking als Erkenntnis mit allen Sinnen

Wenn zu Beginn dieses Beitrags darauf hingewiesen wurde, dass Design mehr ist als die äußere Formgebung, so ziehen sich doch gerade die Visualisierungen des Denkens (Visual Thinking) durch den gesamten Prozess.[1] Im Festhalten der Eindrücke auf Fotos, der Erstellung von Personas, dem Sammeln des Materials auf Tafeln, dem narrativen Beschreiben von Situationen, dem Erstellen von Prototypen – durch den gesamten Ablauf hindurch werden Bilder erzeugt, um Erkenntnisse und Ideen artikulieren, fassen und teilen zu können und den Denkprozess des Teams zu fördern. Design Thinking setzt diese Kulturtechnik des Visuellen intensiv ein. Der Prozess des Erkennens und Begreifens soll mit allen Sinnen erfolgen (Sehen, Hören, Anfassen), denn alle Sinneseindrücke sind kognitiv im Gehirn vernetzt und daher immer auch Teil des Denkens.

Nichtlinearität des Design Thinking

Und wie bei der künstlerischen Arbeit durchläuft die Arbeitsgruppe den Design-Thinking-Prozess nicht notwendig in einem linearen Prozess: Es können beliebig viele gedankliche Runden gedreht werden und es kann jederzeit auf eine vorherige Stufe zurückgesprungen werden. Anders als bei herkömmlichen Entwicklungsprozessen (etwa dem Wasserfall-Modell) gibt es keine Meilensteine oder zwingenden Pfadabhängigkeiten zwischen den Prozessschritten. Die Stufen folgen nicht notwendig aufeinander, sondern können auch ineinandergreifen. Es hat sich jedoch aus didaktischen Gründen als vorteilhaft erwiesen, gerade Anfängern im Design Thinking eine Ablauffolge anzubieten. Wie bei anderen agilen Methoden (etwa Scrum) ist die Abfolge iterativ und wird u. U. mehrfach wiederholt. Man spricht im Design Thinking bei einem einzigen Durchlauf daher in Anlehnung an die Scrum-Methode ebenfalls von einem Sprint.

Der Begriff des "Prozesses" folgt natürlich einem linearen Denken, weswegen vielleicht die Vorstellung eines "Kreislaufs" oder eines "Vor-und-Zurück" die Sache besser treffen würde. Wichtig ist allein, dass der Prozess nicht stur verfolgt wird, sondern dynamisch auf die Erkenntnisse während seiner Durchführung reagiert bzw. angepasst wird.

Zu frühes Verfolgen von Ideen vermeiden

Vor allem Ideen entstehen eigentlich auf jeder Stufe des Ablaufs. Hier ist es wichtig, neue Lösungsansätze nicht sofort weiterzuverfolgen, sondern sie zunächst separat festzuhalten und sich später damit eingehender zu befassen. Legt sich das Team zu früh auf eine Idee fest, wird die Offenheit im Prozess gestört. Gerade Anfänger im Design Thinking neigen zu diesem Fehler, weil sie oft noch zu stark in linearen Strukturen denken und rasch die nächste Stufe im Prozess erreichen möchten.

Festhalten an alten Wegen vermeiden

Aber auch ein Festhalten an noch nicht wirklich guten Lösungen ist suboptimal. Erfahrene Design Thinker arbeiten in solchen Fällen iterativ und wiederholen einzelne Prozessschritte so lange, bis das Ergebnis zufriedenstellend ist, oder verwerfen die Ansätze komplett. Scheitern gehört also durchaus zum Konzept des Design Thinking. Es geht nicht darum, möglichst schnell eine Lösung zu entwickeln, sondern möglichst schnell herauszufinden, ob man sich auf dem richtigen oder falschen Weg befindet, um danach effektiv an einer neuen oder besseren Lösung des Problems zu arbeiten. Je früher ein Fehler erkannt wird, desto effektiver kann der Innovationsprozess fortschreiten. Auch auf der Kostenseite ist dies vorteilhaft, denn so können Entwicklungskosten für falsche Wege gespart werden. In diesem Sinne ist Design Thinking auch "lean", denn die Methode dient dazu, die Verschwendung von Ressourcen einzuschränken.

Fehlerkultur entscheidet über Effektivität

Das Festhalten an suboptimalen Lösungen ist häufig auf eine fehlende Fehlerkultur in der Organisation zurückzuführen. Gerade Unternehmen mit Produkten im Technologiebereich benötigen oft ein ausgeklügeltes Risikomanagement, da Fehler oder falsche Nutzung ihrer Produkte ernste Auswirkungen haben können. Denken wir an die Entwicklung eines Autoreifens. Kleinste Fehler im ausgelieferten Produkt können kapitale Folgen haben. Design Thinking unter diesen Bedingungen ist daher selten erfolgreich. Gleichzeitig kann die Anwendung der Methode aber auch zu einer Öffnung und Bildung einer entsprechenden Kultur des Ausprobierens im Unternehmen beitragen.

[1] Zum anschaulichen Denken s. Arnheim, 1969.

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