Entscheidungsstichwort (Thema)

Eingang eines fristwahrenden Schriftstücks bei Gericht

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Der Zugang zu den Gerichten und den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen darf nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden.

2. Das BVerfG hat es bereits mehrfach als unsachlich und deshalb verfassungswidrig angesehen, daß Gerichte ein fristwahrendes Schriftstück erst dann als wirksam eingereicht gelten lassen, wenn es vom Urkundsbeamten der Geschäftsstelle amtlich in Empfang genommen wurde. Mit dem Einlegen des Schriftstücks (hier: der Berufungsbegründung) in den Briefkasten der Poststelle „Landgericht” ist der Gewahrsam des LG begründet worden. Es ist unerheblich, daß das LG am Freitag bereits ab 15.00 Uhr seine Tätigkeit in der Poststelle beendet. Fristen enden nicht mit Dienstschluß an einem bestimmten Tag, sondern immer um 24.00 Uhr. Das Vorhandensein eines Nachtbriefkastens schließt die Benutzung des Briefkastens an der Posteingangsstelle nicht aus, wenn dieser nach der Gestaltung der tatsächlichen Verhältnisse nicht der einzige zum Empfang der an das Gericht adressierten Post bestimmte und geeignete Briefkasten ist und auch nach Dienstschluß von jedermann benutzt werden kann, der sich im Gerichtsgebäude aufhält oder Zutritt zu ihm erhält.

 

Normenkette

GG Art. 2 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 3, Art. 103 Abs. 1; ZPO § 519 Abs. 2

 

Verfahrensgang

LG Wiesbaden (Beschluss vom 10.01.1990; Aktenzeichen 8 S 372/89)

 

Tatbestand

I.

Der Beschwerdeführer war der Beklagte des der Verfassungsbeschwerde zugrundeliegenden Zivilrechtsstreits. Er wurde vom Amtsgericht Wiesbaden zur Zahlung eines Geldbetrages verurteilt. Im Berufungsverfahren verlängerte das Landgericht die Berufungsbegründungsfrist für den Beschwerdeführer bis zum Freitag, dem 15. Dezember 1989. Dessen Begründungsschrift vom 15. Dezember 1989 erhielt von der Posteingangsstelle des Landgerichts den Eingangsstempel vom 17. Dezember 1989.

Das Berufungsgericht gab mit Verfügung vom 20. Dezember 1989 den Prozeßbevollmächtigten des Beschwerdeführers Gelegenheit, zur beabsichtigten Verwerfung des Rechtsmittels Stellung zu nehmen. Mit Schriftsatz vom 5. Januar 1990 teilte der Prozeßbevollmächtigte Rechtsanwalt Buchberger dem Gericht mit, er selbst habe die Berufungsbegründung am 15. Dezember 1989 gegen 17.00 Uhr in den Hausbriefkasten der Posteingangsstelle mit der Aufschrift „Landgericht” im Innern des Gerichtsgebäudes eingeworfen. Den Nachtbriefkasten habe er nicht benutzt, weil das Gebäude noch geöffnet gewesen sei. Die Richtigkeit dieser Angaben versicherte er an Eides Statt.

Im gemeinsamen Gerichtsgebäude des Wiesbadener Land- und Amtsgerichts ist die Posteingangsstelle freitags bis 15.00 Uhr besetzt; das Dienstgebäude ist ab 16.00 Uhr in der Form verschlossen, daß die Tür im inneren Eingangsbereich zwar von innen noch geöffnet werden kann, von außen jedoch keine Zugangsmöglichkeit mehr besteht. Vor dem Haupteingang des Gerichtsgebäudes befindet sich links neben der Tür ein Briefkasten mit dem Hinweis, daß er nicht für Fristsachen bestimmt sei, rechts neben der Tür ein „Nachtbriefkasten” mit dem Hinweis, daß Fristsachen hier eingeworfen werden sollen. An beiden Briefkästen sind eingehende Erläuterungen über Leerungszeiten und über die Schriftstücke, für die sie bestimmt sind, angebracht – an dem Nachtbriefkasten z.B. über seine Öffnungszeiten von 8.00 bis 24.00 Uhr und über den Fristablauf bei Fristende an Feiertagen. Im Innern des Gebäudes befinden sich – seitwärts neben der Eingangshalle – die Posteingangsstelle und drei Briefkästen mit den Aufschriften „Amtsgericht”, „Landgericht” und „Staatsanwaltschaft”.

Durch Beschluß vom 10. Januar 1990, der den Prozeßbevollmächtigten des Beschwerdeführers am 17. Januar 1990 zugestellt wurde, verwarf das Landgericht die Berufung des Beschwerdeführers als unzulässig, weil sie nicht rechtzeitig begründet worden sei. Die Berufungsbegründungsschrift vom 15. Dezember 1989 sei an diesem Tage nicht ordnungsgemäß in den Geschäftsgang des Gerichts gelangt; das sei erst am 17. Dezember 1989 geschehen. Da die Poststelle freitags ab 15.00 Uhr nicht mehr besetzt sei, sei die Annahme des Schriftsatzes an diesem Tage ausgeschlossen gewesen. Auch die Pforte des Gerichts sei freitags ab 16.00 Uhr nicht mehr besetzt, so daß auch eine Annahme durch den Pförtner ausscheide. Zur Fristwahrung hätte der Schriftsatz in den Nachtbriefkasten eingeworfen werden müssen.

Hiergegen beantragte der Beschwerdeführer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand: Er habe nicht damit rechnen können, daß ein im Innern des Gerichtsgebäudes abgegebener Schriftsatz nicht mehr in den Geschäftsgang gelange. Es fehlten jegliche Hinweise darauf, daß eine Abgabe von Schriftsätzen bei der Poststelle freitags nach 15.00 Uhr nicht mehr berücksichtigt werde.

Durch Beschluß vom 5. Februar 1990 wies das Landgericht diesen Antrag zurück, weil die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist auf das Verschulden des Prozeßbevollmächtigten des Beschwerdeführers zurückzuführen sei. Diesem habe bekannt sein müssen, daß freitags ab 15.00 Uhr generell keine Geschäftsstunden mehr seien und somit um 17.00 Uhr nicht mehr gewährleistet sei, daß ein Brief, der nicht in den Nachtbriefkasten eingeworfen werde, noch an diesem Tag in den ordnungsgemäßen Geschäftsgang gelange. Es habe auch genügend Anhaltspunkte dafür gegeben, daß freitags nach 15.00 Uhr keine Geschäftsstunden mehr seien und dementsprechend auch keine Briefe mehr entgegengenommen werden könnten. An der Eingangstür werde auf die Dienstzeiten aufmerksam gemacht. Außerdem sei die Tür ab 16.00 Uhr so verschlossen, daß von außen kein Zugang mehr möglich sei. Auch sei die Pforte ab 16.00 Uhr nicht mehr besetzt und dunkel und in der Postannahmestelle befinde sich kein Wachtmeister.

Eine Gegenvorstellung des Beschwerdeführers vom 7. Februar 1990 lehnte das Landgericht durch Beschluß vom 14. Februar 1990 ab, weil keine neuen, der Kammer bisher unbekannten Tatsachen vorgetragen worden seien.

 

Entscheidungsgründe

II.

1. Mit der am 12. Februar 1990 eingegangenen Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluß vom 10. Januar 1990 rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung der Art. 1, 2 Abs. 1, 19 Abs. 4, 20 Abs. 1 und 103 Abs. 1 GG. Das Bundesverfassungsgericht habe es bereits mehrfach als unsachlich und deshalb verfassungswidrig angesehen, daß Gerichte ein fristwahrendes Schriftstück erst dann als wirksam eingereicht gelten ließen, wenn es vom Urkundsbeamten der Geschäftsstelle amtlich in Empfang genommen worden sei. Mit dem Einlegen der Berufungsbegründung in den Briefkasten der Poststelle „Landgericht” sei der Gewahrsam des Landgerichts begründet worden. Es sei unerheblich, daß das Landgericht am Freitag bereits ab 15.00 Uhr seine Tätigkeit in der Poststelle beende. Fristen endeten nicht mit Dienstschluß an einem bestimmten Tag, sondern immer um 24.00 Uhr. Auch befinde sich in der Postverteilungsstelle des Landgerichts kein Hinweis, daß Fristsachen in der Geschäftsstelle oder in der gemeinsamen Briefannahmestelle abzugeben oder in den Nachtbriefkasten einzuwerfen seien.

2. Zu der Verfassungsbeschwerde hat sich die Hessische Staatskanzlei geäußert. Sie hält die Verfassungsbeschwerde für zulässig und begründet.

III.

Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet (§ 93b Abs. 2 Satz 1 BVerfGG). Der angegriffene Beschluß verletzt den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip und aus Art. 103 Abs. 1 GG.

1. Das Bundesverfassungsgericht hat – für Straf- und Bußgeldverfahren sowie für den Rechtsweg gegen Maßnahmen der öffentlichen Gewalt gestützt auf Art. 19 Abs. 4 GG, für Zivilprozesse aufgrund des allgemeinen Gebots rechtsstaatlicher Verfahrensgestaltung (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip) – den Grundsatz entwickelt, daß der Zugang zu den Gerichten und den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden darf (vgl. BVerfGE 41, 23 ≪26≫; 69, 381 ≪385≫; ständige Rechtsprechung). Der Bürger ist insbesondere berechtigt, die ihm vom Gesetz eingeräumten prozessualen Fristen bis zu ihrer Grenze auszunutzen (vgl. BVerfGE 40, 42 ≪44≫; 41, 323 ≪328≫; 69, 381 ≪385≫). Für die Rechtzeitigkeit des Eingangs eines fristwahrenden Schriftstücks ist allein entscheidend, daß es innerhalb der Frist tatsächlich in die Verfügungsgewalt des Gerichts gelangt (vgl. BVerfGE 52, 203 ≪209≫; 57, 117 ≪120≫; 69, 381 ≪385 f.≫). Dabei kommt es weder auf das Ende der Dienstzeit (vgl. BVerfGE 41, 323 ≪327≫; 42, 128 ≪131 f.≫) noch auf die fristgerechte Entgegennahme durch den zuständigen Bediensteten der Geschäftsstelle an (vgl. BVerfGE 52, 203 ≪209≫; 57, 117 ≪120≫). Etwaige Fristversäumungen die auf Verzögerungen der Entgegennahme der Sendung durch das Gericht beruhen, dürften dem Bürger nicht angelastet werden (vgl. BVerfGE 44, 302 ≪306≫; 69, 381 ≪386≫). Gerade in Fristfragen muß für den Rechtsuchenden klar erkennbar sein, was er zu tun hat, um einen Rechtsverlust zu vermeiden. Die Grenze des Zumutbaren ist dann überschritten, wenn auf den Bürger die Verantwortung für Risiken und Unsicherheiten bei der Entgegennahme rechtzeitig in den Gewahrsam des Gerichts gelangender fristwahrender Schriftsätze abgewälzt wird und die Ursache hierfür allein in der Sphäre des Gerichts zu finden ist (vgl. BVerfGE 52, 203 ≪212≫; 69, 381 ≪386≫). Das gilt für den ersten Zugang zum Gericht und auch für die Wahrnehmung aller Instanzen, die eine Prozeßordnung jeweils vorsieht (vgl. BVerfGE 40, 272 ≪274 f.≫; 44, 302 ≪305 f.≫). Nach Art. 103 Abs. 1 GG hat der Bürger ferner das Recht, im gerichtlichen Verfahren sich zu äußern und in diesem Sinne vom Richter zur Sache gehört zu werden. Die Fachgerichte haben diese einander ergänzenden verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgarantien, unbeschadet ihrer grundsätzlichen Kompetenz zur Auslegung und Anwendung des Verfahrensrechts, bei ihren Entscheidungen zu beachten (vgl. BVerfGE 42, 128 ≪130 f.≫; 44, 302 ≪306≫).

2. Diesen Maßstäben wird der angegriffene Beschluß nicht gerecht. Trifft die Sachdarstellung des Beschwerdeführers zu – wovon das Landgericht ausgegangen ist –, dann ist die Berufungsbegründungsschrift rechtzeitig beim Landgericht eingegangen. Der an der Posteingangsstelle im Inneren des Gerichtsgebäudes mit der Aufschrift „Landgericht” angebrachte Briefkasten war ohne erkennbare sachliche oder zeitliche Einschränkung für den Empfang der für das Landgericht bestimmten Schriftstücke bereitgestellt. Mit der Einlegung in dieses Postfach war die Berufungsbegründungsschrift in die Verfügungsgewalt des Landgerichts gelangt, ohne daß es dazu noch der Mitwirkung eines Gerichtsbediensteten bedurft hätte. Das Vorhandensein eines Nachtbriefkastens schloß die Benutzung des Briefkastens an der Posteingangsstelle nicht aus; denn dieser war nach der Gestaltung der tatsächlichen Verhältnisse nicht der einzige zum Empfang der an das Landgericht adressierten Post bestimmte und geeignete Briefkasten. Er konnte auch nach Dienstschluß von jedermann benutzt werden, der sich im Gerichtsgebäude aufhielt oder Zutritt zu ihm erhielt. Dem Prozeßbevollmächtigten des Beschwerdeführers war es deshalb nicht verwehrt, die Berufungsbegründungsschrift am letzten Tage der Begründungsfrist auch noch nach Dienstschluß mit fristwahrender Wirkung in den Briefkasten an der Posteingangsstelle einzulegen. Das entspricht auch der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. BGH, NJW 1984, S. 1237).

Der angegriffene Beschluß ist daher aufzuheben und die Sache gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG an das Landgericht zurückzuverweisen.

IV.

Die dem Beschwerdeführer entstandenen notwendigen Auslagen sind gemäß § 34a Abs. 2 BVerfGG vom Land Hessen zu erstatten.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

 

Fundstellen

NJW 1991, 2076

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