Entscheidungsstichwort (Thema)

Anforderungen an Divergenzbeschwerde nach FGO § 115. Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde

 

Leitsatz (amtlich)

Zu den Anforderungen, die nach dem Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde an die Begründung einer Nichtzulassungsbeschwerde wegen Divergenz zu stellen sind, wenn der Beschwerdeführer die divergierende höchstrichterliche Entscheidung nicht vollständig kennt.

 

Normenkette

GG Art. 19 Abs. 4; BVerfGG § 90 Abs. 2 S. 1; FGO § 115 Abs. 2 Nr. 2; BFHEntlG Art. 1 Nr. 5

 

Verfahrensgang

BFH (Beschluss vom 09.06.1988; Aktenzeichen IV B 135/87)

 

Tatbestand

I.

Mit ihrer Verfassungsbeschwerde wendet sich die Beschwerdeführerin dagegen, daß der Bundesfinanzhof ihre auf Divergenz gestützte Nichtzulassungsbeschwerde als unzulässig verworfen hat.

1. Nach Art. 1 Nr. 5 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs in der Fassung des Art. 2 des Gesetzes zur Beschleunigung verwaltungsgerichtlicher und finanzgerichtlicher Verfahren vom 4. Juli 1985 (BGBl. I S. 1274) findet die Revision zum Bundesfinanzhof – abgesehen von der zulassungsfreien Revision wegen wesentlicher Verfahrensmängel (§ 116 Abs. 1 FGO) und der Revision gegen Urteile in Zolltarifsachen (§ 116 Abs. 2 FGO) – nur noch statt, wenn das Finanzgericht sie zugelassen oder der Bundesfinanzhof der Nichtzulassungsbeschwerde stattgegeben hat.

Die für die Nichtzulassungsbeschwerde maßgebliche Bestimmung lautet:

§ 115 FGO

(1) …

(2) Die Revision ist nur zuzulassen, wenn

  1. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
  2. das Urteil von einer Entscheidung des Bundesfinanzhofs abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder

(3) Die Nichtzulassung der Revision kann selbständig durch Beschwerde innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils angefochten werden. Die Beschwerde ist bei dem Gericht einzulegen, dessen Entscheidung angefochten werden soll. In der Beschwerdeschrift muß die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt oder die Entscheidung des Bundesfinanzhofs, von der das Urteil abweicht, oder der Verfahrensmangel bezeichnet werden.

(4) …

(5) …

Innerhalb der Monatsfrist ist die Beschwerde auch zu begründen. Eine zulässige, auf Divergenz gestützte Nichtzulassungsbeschwerde hat nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BStBl. 1983 II S. 479) folgende Anforderungen zu erfüllen: Damit die behauptete Divergenz erkennbar wird, muß ein abstrakter Rechtssatz herausgearbeitet werden, der das erstinstanzliche Urteil trägt. Diesem Rechtssatz ist ein abweichender Rechtssatz aus der näher zu bezeichnenden Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs gegenüberzustellen. Dabei muß die angeblich divergierende Entscheidung des Bundesfinanzhofs mit Aktenzeichen und Datum oder mit einer etwaigen Fundstelle genau bezeichnet werden.

2. a) Gegenstand des Unternehmens der Beschwerdeführerin ist die Durchführung und Betreuung von Bauvorhaben, die Bauberatung, die Finanzierung, die Erstellung von Gutachten für private und gewerbliche Bauherren sowie die Verwaltung von Haus- und Grundbesitz. Unter anderem erwarb sie für die Durchführung eines größeren Projekts eine Reihe von Grundstücken, die sie, als das Vorhaben gescheitert war, nach Parzellierung und Erschließung an private Bauherren verkaufte. 1976 und 1977 veräußerte sie insgesamt elf Grundstücke.

In ihren Gewerbesteuererklärungen für diese Jahre kürzte die Beschwerdeführerin den Gewerbeertrag nach § 9 Nr. 1 Sätze 2 und 3 GewStG (erweiterte Kürzung) auch um die Veräußerungsgewinne und Erschließungskosten, die auf die verkauften Grundstücke entfielen. Das Finanzamt vertrat die Ansicht, daß nach Art und Umfang des gesamten Erschließungsvorgangs eine gewerbliche Tätigkeit der Beschwerdeführerin angenommen werden müsse, welche die erweiterte Kürzung des Gewerbeertrags ausschließe.

b) Einspruch und Klage blieben erfolglos. Das Finanzgericht führte aus: Die erweiterte Kürzung des Gewerbeertrags sei abzulehnen, wenn Grundstücksgeschäfte eines Unternehmens über den Rahmen einer Grundstücksverwaltung hinausgingen. Sei innerhalb von wenigen Jahren Grundbesitz in erheblichem Umfang durch Veräußerung und Ankäufe derart umgeschichtet worden, daß diese Tätigkeit gegenüber einer bloßen Fruchtziehung in den Vordergrund trete, könne nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht mehr von Vermögensverwaltung ausgegangen werden. Nach dem Umfang der Grundstücksverkäufe habe die Beschwerdeführerin einen gewerblichen Grundstückshandel betrieben. Für seine Rechtsauffassung bezog sich das Finanzgericht auf die Urteile des Bundesfinanzhofs vom 24. September 1970 – I R 21/70 – (BStBl 1970 II S. 871) und vom 24. Februar 1971 – I R 174/69 – (BStBl. 1971 II S. 338).

c) Das Urteil des Finanzgerichts, das aufgrund mündlicher Verhandlung vom 3. Juni 1987 erging, wurde dem Bevollmächtigten der Beschwerdeführerin am 5. August 1987 zugestellt. Dieser entnahm einer Fachpublikation „Schnellbrief”) die Information, daß der Bundesfinanzhof am 29. April 1987 eine Entscheidung mit folgendem Leitsatz getroffen hatte:

Veräußert ein Unternehmen, das die Voraussetzungen des § 9 Nr. 1 Satz 2 GewStG erfüllt, Grundbesitz, ist auch der bei der Veräußerung erzielte Gewinn gemäß § 9 Nr. 1 Satz 2 GewStG bei der Ermittlung des Gewerbeertrags zu kürzen (Aufgabe der früheren Rechtsprechung – vgl. BFH-Urteile vom 24. September 1970 I R 21/70, BFHE 100, 210, BStBl II 1970, 871, und vom 24. Februar 1971 I R 174/69, BFHE 101, 396, BStBl II 1971, 338).

Mit Schriftsatz vom 1. September 1987 erhob die Beschwerdeführerin Nichtzulassungsbeschwerde. Neben der Angabe des Revisionsklägers, des Bevollmächtigten, des Beklagten, des Klagegegenstandes und des Klageantrages heißt es unter „Revisionsbegründung”:

Wird innerhalb der gesetzlichen Frist nachgereicht.

Die Revision begründet sich auf § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO, und zwar auf das BFH-Urteil vom 29.4.87 I R 10/86 (Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung lt. Urteil vom 24.2.71 I R 174/69 – zitiert auf Seite 11 des Urteils).

Mit Schriftsatz vom 1. Oktober 1987 ergänzte die Beschwerdeführerin ihren Antrag auf Zulassung der Revision.

d) Der Bundesfinanzhof verwarf die Nichtzulassungsbeschwerde. Unter Wiedergabe seiner Rechtsprechung zur Divergenzbeschwerde kommt er zu dem Ergebnis, die Beschwerdeführerin habe die Beschwerde innerhalb der Beschwerdefrist des § 115 Abs. 3 FGO weder in dem Schriftsatz vom 1. September 1987 noch in einem besonderen Schreiben in einer den gesetzlichen Anforderungen genügenden Weise begründet. Ob ihre späteren Ausführungen für die Begründung einer Nichtzulassungsbeschwerde wegen Divergenz genügten, sei unerheblich, weil die Schriftsätze erst nach Ablauf der Beschwerdefrist eingegangen seien.

3. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin die Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG. Durch die Entscheidung des Bundesfinanzhofs sei ihr die Beschreitung des Rechtswegs in einer unzumutbaren, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigenden Weise erschwert worden.

Nach dem unmißverständlichen und eindeutigen Wortlaut des § 115 Abs. 3 Satz 3 FGO reiche es für die Begründung einer auf Divergenz gestützten Nichtzulassungsbeschwerde aus, wenn die Entscheidung des Bundesfinanzhofs bezeichnet werde, von der das Urteil abweiche. Die Forderung des Bundesfinanzhofs, daß neben der Bezeichnung der abweichenden Entscheidung in der Beschwerdeschrift angegeben werden müsse, inwieweit das vorinstanzliche Gericht seiner Entscheidung einen Rechtssatz zugrunde gelegt habe, der mit der angeführten Rechtsprechung des Revisionsgerichts nicht übereinstimme, stehe nicht im Einklang mit dem Gesetzeswortlaut. Diesen Anforderungen habe die Beschwerdeschrift genügt.

Schließlich sei der Bevollmächtigte nicht in der Lage gewesen, die Nichtzulassungsbeschwerde in der vom Bundesfinanzhof verlangten Form fristgerecht zu begründen. Das Bundessteuerblatt 1987 II Nr. 14 mit der vollständig abgedruckten einschlägigen Entscheidung habe ihr Bevollmächtigter erst am 7. September 1987 erhalten.

4. Namens der Bundesregierung hat der Bundesminister der Justiz Stellung genommen. Er hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet. Die Auslegung des § 115 Abs. 3 Satz 3 FGO durch den Bundesfinanzhof stimme mit der Rechtsprechung der anderen obersten Bundesgerichte überein und entspreche Sinn und Zweck der Regelung. Das Darlegungserfordernis führe auch dann nicht zu unüberwindlichen Schwierigkeiten für den Rechtsschutzsuchenden, wenn die abweichende Entscheidung des Revisionsgerichts so spät ergehe, daß sie zur Begründung einer Nichtzulassungsbeschwerde wegen Divergenz nicht herangezogen werden könne. Die Nichtzulassungsbeschwerde sei in diesen Fällen trotz der insoweit fehlenden Begründung für zulässig erachtet worden, wenn der Beschwerdeführer dieselbe Rechtsfrage fristgerecht zum Gegenstand einer auf grundsätzliche Bedeutung gestützten Nichtzulassungsbeschwerde gemacht und diese hinreichend begründet habe.

Im übrigen ergäben sich Zweifel, ob die Beschwerdeführerin nicht rechtzeitig an die ihrer Meinung nach von dem Urteil des Finanzgerichts abweichende Entscheidung des Bundesfinanzhofs hätte gelangen können; denn dem Prozeßbevollmächtigten hätten zumindest zwei Wochen zur Verfügung gestanden, um sich beim Bundesfinanzhof um die Zusendung eines Entscheidungsabdrucks zu bemühen.

Das zuständige Finanzamt vertritt in seiner Stellungnahme die gleiche Ansicht.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig.

Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde steht der in § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zum Ausdruck kommende allgemeine Grundsatz der Subsidiarität entgegen. Er fordert, daß ein Beschwerdeführer über das Gebot der Erschöpfung des Rechtswegs im engeren Sinn hinaus alle nach Lage der Sache zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ergreift, um eine Korrektur der geltend gemachten Grundrechtsverletzung zu erwirken oder eine Grundrechtsverletzung zu verhindern (vgl. BVerfGE 73, 322 ≪325≫; 77, 381 ≪401≫). Dieser Verpflichtung ist die Beschwerdeführerin nicht nachgekommen.

Der Bevollmächtigte hätte innerhalb der Monatsfrist des § 115 Abs. 3 Satz 1 FGO darauf hinweisen müssen, daß er ohne Kenntnis der vollständigen Entscheidung des Bundesfinanzhofs, aus der sich die Divergenz ergebe, seine Beschwerde nicht in der erforderlichen Weise begründen könne und daß er sich diese Entscheidung trotz seiner Bemühungen nicht habe beschaffen können. Eine derartige Erklärung ist aber weder in dem Schriftsatz vom 1. September noch in dem vom 1. Oktober 1987 enthalten. Der Prozeßbevollmächtigte durfte nicht davon ausgehen, daß die Richter, die über die Nichtzulassungsbeschwerde zu entscheiden hatten, darüber unterrichtet waren, wann das Bundessteuerblatt mit der einschlägigen Entscheidung an die Bezieher ausgeliefert wurde. Der Bundesfinanzhof hatte deshalb keine Veranlassung, sich mit dem Argument auseinanderzusetzen, eine ordnungsgemäße Beschwerdebegründung sei innerhalb der Monatsfrist nicht möglich. Es ist nicht auszuschließen, daß die Darlegung der Subjektiven Unmöglichkeit den Bundesfinanzhof veranlaßt hätte, von der Einhaltung der strengen Formerfordernisse abzusehen (vgl. BStBl. 1974 II S. 583; BStBl. 1976 II S. 684). Im übrigen wäre es dem Prozeßbevollmächtigten durchaus möglich gewesen, über einen knappen Satz hinaus weitere Ausführungen zu machen. So hätte er vortragen können, die Entscheidung des Finanzgerichts beruhe auf der Ansicht, nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs könnten Unternehmer im Sinne von § 9 Abs. 1 Satz 2 GewStG die erweiterte Kürzung nicht beanspruchen, wenn sie in größerem Umfang durch Veräußerungen und Ankäufe innerhalb von wenigen Jahren Grundbesitz in einer Weise umgeschichtet hätten, daß diese Tätigkeit gegenüber einer bloßen Fruchtziehung in den Vordergrund getreten sei. Diese Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs sei durch sein neues Urteil (Zitat) offenbar aufgegeben worden, so daß ein Fall der Divergenz gegeben sei.

Danach hat die Beschwerdeführerin auch insoweit nicht das ihr Zumutbare getan, um sich den Zugang zur Revisionsinstanz zu verschaffen. Die Anforderungen, die der Bundesfinanzhof allgemein an die Zulässigkeit einer Divergenzbeschwerde stellt, sind von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden.

 

Fundstellen

BVerfGE, 22

NJW 1990, 1595

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