Leitsatz

Entscheidungen des zuständigen Sozialversicherungsträgers über die Sozialversicherungspflicht eines Arbeitnehmers sind im Besteuerungsverfahren zu beachten, soweit sie nicht offensichtlich rechtswidrig sind (Anschluss an BFH, Urteil vom 06.06.2002, VI R 178/97, BFH/NV 2003, 97, BFH/PR 2003, 56).

 

Normenkette

§ 42d Abs. 1 Nr. 1, § 3 Nr. 62 EStG, Art. 20 Abs. 3 GG

 

Sachverhalt

G war Geschäftsführer der K-GmbH und an der K-GmbH mit 24 % beteiligt. Die Krankenkasse T beurteilte mit Bescheid vom 01.07.1994 die Geschäftsführertätigkeit des G als selbstständige und nicht sozialversicherungspflichtige Tätigkeit. Dennoch leistete K für G Beiträge i.H.v. ca. 16 000 DM für Kranken- und Pflegeversicherung an T und behandelte diese als steuerfrei nach § 3 Nr. 62 EStG. Das FA beurteilte die für G gezahlten Beträge mangels sozialversicherungsrechtlicher Verpflichtung der K als steuerpflichtigen Lohn und erließ einen entsprechenden LSt-Haftungsbescheid. Dagegen machte K geltend, dass G sozialversicherungsrechtlich Arbeitnehmer sei und die Bescheide der T und der LVA noch nicht bestandskräftig gewesen seien.

Die Klage hatte insoweit Erfolg. Das FG (FG des Landes Sachsen-Anhalt, Urteil vom 30.07.2008, 2 K 1957/03, Haufe-Index 2093312, EFG 2009, 231) verneinte eine Bindungswirkung der Bescheide entgegen dem BFH (BFH, Urteil vom 06.06.2002, VI R 178/97, BFH/NV 2003, 97, BFH/PR 2003, 56).

 

Entscheidung

Der BFH hob dagegen die Vorentscheidung auf und hielt – wie aus dem Leitsatz ersichtlich – an seiner Rechtsprechung zur Bindungswirkung sozialversicherungsrechtlicher Bescheide aus den unter "Praxis-Hinweise" dargelegten Gründen fest.

 

Hinweis

Die mit dem Leitsatz der Entscheidung gegebene Antwort auf die Frage, ob sozialversicherungsrechtlichen Bescheiden Bindungswirkung für das einkommensteuerrechtliche Verfahren zukommt, könnte Anlass zu Missverständnissen geben. Denn eine Bindungswirkung entsteht nur hinsichtlich der sozialversicherungsrechtlichen Fragestellung – im Streitfall also zu § 3 Nr. 62 EStG mit der dort vorausgesetzten sozialversicherungsrechtlichen Verpflichtung. Ansonsten gilt der altbekannte Grundsatz, dass nämlich der sozialversicherungsrechtliche und der arbeitsrechtliche Arbeitnehmerbegriff sich von dem des § 19 EStG unterscheiden – jedenfalls aber nicht deckungsgleich sein müssen.

1.§ 3 Nr. 62 EStG fragt nach der "sozialversicherungsrechtlichen" Verpflichtung. Zu prüfen ist daher, ob ein Beschäftigungsverhältnis besteht (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB 5, § 7 Abs. 1 S. 1 SGB IV). Das entscheiden die Krankenkassen als Einzugsstellen der Sozialversicherungsträger nach § 28h Abs. 2 SGB IV. Und diese Feststellungen der Sozialversicherungsträger sind auf Grundlage der "Tatbestandswirkung" für das Besteuerungsverfahren beachtlich. Literatur sowie die obersten Bundesgerichte (BFH, BGH, BVerwG, BAG, BSG) gehen von dieser Tatbestandswirkung von Verwaltungsakten übereinstimmend aus.

2. Woraus ergibt sich diese Tatbestandswirkung? Nicht unmittelbar aus dem Gesetz; der BFH entnimmt u.a. unter Berufung auf Kirchhof (NJW 1985, 2983) die Bindungswirkung aus Art. 20 Abs. 3 GG (Rechtsstaatsprinzip); denn die Entscheidung über Rechtmäßigkeit und Bestand eines behördlichen Bescheids soll den dazu berufenen Spezialgerichten vorbehalten bleiben. Die Tatbestandswirkung entsteht mit Wirksamkeit des Verwaltungsakts, also schon mit dessen Erlass – unabhängig von dessen Bestandskraft. Dies bewirkt keine Rechtsschutzlücke. Denn der Rechtsweg zu den Sozialgerichten steht natürlich offen.

3. Nachdem im Streitfall nichts für eine offensichtlich rechtswidrige Entscheidung der Krankenkasse sprach – Grundsätze des BSG beachtet, Sachverhalt vollständig ermittelt, zuständiger Sozialversicherungsträger – entfaltete der Bescheid der Krankenkasse vom 01.07.1994 Tatbestandswirkung.

 

Link zur Entscheidung

BFH, Urteil vom 21.01.2010 – VI R 52/08

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