Rz. 111

Von strategischer Bilanzpolitik spricht man, wenn das zumeist auf die bilanzpolitische Gestaltung einer Periode ausgerichtete Portfolio an bilanzpolitischen Maßnahmen zugunsten einer langfristig ausgerichteten Optimierung von bilanzpolitischen Instrumenten abgelöst wird, die sich an den langfristigen Zielen der Unternehmung und der an ihr interessierten Personengruppen orientiert.

 

Rz. 112

Das erfordert eine Erweiterung der bilanzpolitischen Überlegungen in 4-facher Hinsicht:[1]

  • Erweiterung in zeitlicher Hinsicht: Bilanzpolitik kann nicht nur kurzfristig, sondern muss vor allem auch langfristig orientiert sein. Letztendlich macht das eine Prognose der künftigen wirtschaftlichen Entwicklung und die Erstellung darauf aufbauender Prognosebilanzen und Prognose-GuV-Rechnungen[2] notwendig. Um unerwarteten Entwicklungen Rechnung tragen zu können, ist es jedoch wichtig, rechtzeitig bilanzielle Gestaltungspotenziale zu schaffen, die sich im Bedarfsfalle realisieren lassen. So wird man z. B. stille Reserven nicht nur unter dem Aspekt der momentanen Steuerersparnis bilden, sondern nur dann, wenn diese sich auch dann als vorteilhaft erweisen, wenn beispielsweise eine über die gesamte Planungsperiode umfassende langfristige Steuerbarwertminimierung betrieben wird.
  • Erweiterung im Hinblick auf den Kreis der angesprochenen Bilanzadressaten: Als Adressaten sind nicht nur die Anteilseigner, das Finanzamt und die Hausbank zu berücksichtigen, sondern alle an dem Unternehmen interessierten Personengruppen, einschließlich beispielsweise der an der nichtfinanziellen Berichterstattung interessierten Personengruppen und Vereinigungen. Dabei sind im Vorfeld der Entscheidung über die anzuwendende Bilanzpolitik u. a. folgende Fragen zu klären:

    • Welche Bilanzadressaten sind für das Unternehmen von vorrangiger Wichtigkeit? Kann es sein, dass im Zeitablauf möglicherweise unterschiedliche Adressatengruppen unterschiedliches Gewicht erlangen?
    • Welche Erwartungen haben die verschiedenen Adressatengruppen gegenüber der bilanzierenden Unternehmung?
    • Welche Reaktionen werden unterschiedlich gestaltete Jahresabschlüsse bei den einzelnen Adressatengruppen auslösen? Welche Nachteile können sich daraus für das Unternehmen ergeben?

      Gibt es bei den Adressatengruppen im Hinblick auf unterschiedliche Abschlussdaten Toleranzzonen, die akzeptiert werden, also noch keine Reaktionen auslösen?[3]

      In welchem Umfang sind die Adressaten in der Lage, die Bilanzpolitik mittels Bilanzanalyse aufzudecken? Kann der Bilanzanalyse mit nicht erkennbaren bilanzpolitischen Mitteln (vgl. Rz. 100  ff.) begegnet werden?

  • Erweiterung im Hinblick auf die "bilanzpolitischen Objekte": Die Bilanzpolitik konzentriert sich nicht nur auf die Höhe des ausgewiesenen Gewinns, sondern befasst sich einerseits mit anderen Positionen der Rechnungslegung. Beispielsweise können hierzu Cashflow-Größen, Wertbeiträge, Segmentberichte und Informationen der Lageberichterstattung (vgl. Rz. 60) zählen. Darüber hinaus sind aber auch die im Rahmen der nichtfinanziellen Berichterstattung enthaltenen Informationen als strategisches Objekt der Bilanzanalyse von Bedeutung, da diese eine Frühwarnfunktion im Hinblick auf langfristige Trends besitzen können (z. B. Tragfähigkeit des Geschäftsmodells nach § 289c Abs. 1 HGB sowie Berichterstattung über die wesentlichen Risiken aus eigener Geschäftstätigkeit und der Lieferkette nach § 289c Abs. 3 Nr. 3 und Nr. 4 HGB) , mit denen das zu analysierende Unternehmen konfrontiert werden könnte und die ggfs. zu einem späteren Zeitpunkt auch zu bilanzwirksamen Auswirkungen führen.[4]
  • Erweiterung hinsichtlich des Publizitätsverhaltens: Die strategische Bilanzpolitik benutzt die Publizität gezielt als Instrument der Zielerreichung, insbesondere zur Kommunikation gegenüber dem erweiterten Kreis an Bilanzadressaten (siehe 2. Punkt). Damit gewinnen vor allem die informationspolitische Zielsetzung und die damit einhergehende Verhaltensbeeinflussung deutlich gegenüber den finanzpolitischen Zielsetzungen. Das bedeutet entweder generell ein offensives Publizitätsverhalten oder zumindest ein offensives Publizitätsverhalten in Teilbereichen (selektives Publizitätsverhalten). Die Publikumsaktiengesellschaften verfolgen im Regelfall eine derartige Strategie; für sie stellt strategische Bilanzpolitik darüber hinaus auch ein Mittel zur Sicherung der Unabhängigkeit des Unternehmens dar.[5]
 

Rz. 113

Angesichts der gleichzeitigen Berücksichtigung sehr vieler, zukunftsbezogener und mit hohen Unsicherheiten behafteten Aspekte erreicht Bilanzpolitik in der Form der strategischen Bilanzpolitik ihre höchste Komplexität. Das bedingt u. a. einen ständigen Umgang mit Zielkonflikten (vgl. Rz. 17  ff.), eine sorgfältige Abschätzung und kontinuierliche Überwachung der verschiedenen Auswahlkriterien sowie von sich wandelnden Umweltbedingungen bei der Anwendung der bilanzpolitischen Mittel (vgl. Rz. 63  ff.).

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